Der Standard

DA MUSS MAN DURCH

Stängel des Grauens. Ein Bericht aus der Welthaupts­tadt der Selfie-Sticks

- Die Krisenkolu­mne Von Christoph Winder

Das bizarrste Artefakt der Smartphone­ära ist und bleibt doch der Selfie-Stick, jenes narzisstis­che Hilfsobjek­t, mit dem man das eigene Konterfei ohne fremde Hilfe fotografie­ren kann. Das ist keine neue Erkenntnis, aber sie erschließt sich in neuer Frische, wenn man mit dem massenhaft­en Auftreten dieser Stängel des Grauens konfrontie­rt wird.

Der Krisenkolu­mnist hat Ferragosto heuer in Rom verbracht (ein guter Ort und eine gute Zeit für alle, die bei Temperatur­en unter 35 Grad zum Frösteln neigen). Dabei ist er zum Eindruck gekommen, dass Rom die unangefoch­tene Welthaupts­tadt des Selfie-Sticks sein dürfte. Dies deshalb, weil kaum eine andere Metropole eine ähnlich große Anzahl leicht identifizi­erbarer, schmeichel­haft bedeutsame­r Hintergrun­dsujets für Selfies anbieten kann. Vor dem Kolosseum fühlt man sich doch gleich wie Domitian und Konstantin in Personalun­ion!

Die Konsequenz: Jeder zweite von Millionen Rom-Touristen hat die Smartphone-Rute meterweit ausgefahre­n, um seine kostbare Präsenz vor dem Petersdom, dem Septimius-Severus-Bogen oder dem Mars-Ultor-Tempel für die Nachwelt zu dokumentie­ren. Veni, vidi, knipsi!

Für unbestänge­lte Touristen wird ein Spaziergan­g in Rom unter diesen Auspizien hingegen zum neuzeitlic­hen Äquivalent eines Spießruten­laufs, weil sie auf Schritt und Tritt mit einem Selfie-Stick zu kollidiere­n drohen. Weicht man dem einen aus, sticht man sich an einem anderen. Selbst höfliche Menschen tun sich da gelegentli­ch schwer, ein „Fuck yourselfie!“zu unterdrück­en.

Nicht hilfreich sind auch die Dutzendsch­aften ambulanter Krämer, die die Popularitä­t des Fotostänge­ls natürlich mitbe- kommen haben und jedem, der unbedacht ein Handy hervorzieh­t, sofort einen Stick anzudrehen versuchen, selbst wenn man nur die E-Mails checken oder einen Tweet abdrücken wollte. Da kann man sich nach der Abwehr des zweihunder­sten solchen Angebots schon einmal leicht ermüdet fühlen!

Die Antike hatte gewiss ihre Schattense­iten, aber einige dubiose Fortschrit­tsexzesse sind ihr erspart geblieben: Es ist kein Selfie von Romulus und Remus beim Saugen überliefer­t, kein Selfie von Brutus und Cassius, wie sie vor der Ermordung Caesars in die Kamera feixen, kein Selfie von Nero beim Zündeln. Glückliche alte Römer!

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