Kleider, Musik und Jungs
Als der Punk weiblich wurde: Viv Albertine blickt auf ihr Leben zurück.
Um es gleich zu sagen: ein cooles Buch. Vielleicht eines der coolsten Musikbücher der letzten Jahre. Nein, garantiert eines der coolsten. Dabei will es gar nicht cool sein. Und wer einmal Viv Albertine erlebt hat, weiß, dass sie alles ist, nur nicht unnahbar. Vielmehr eine ungemein freundliche, gut aussehende, völlig komplexfreie Frau, witzig und umgänglich. Und das können nicht viele Punkmusiker von sich sagen und die letzten Überlebenden des Punk von sich behaupten.
Es verwundert nicht, dass A Typical Girl, ihr „Memoir“, im hochliterarischen Londoner Faber-&Faber-Verlag erschien und dass der hochliterarische Suhrkamp-Verlag die gelungene Eindeutschung von Conny Lösch herausbringt, nur leider dabei den viel besseren, treffenderen sinnigeren Titel der Originalausgabe Clothes, clothes, clothes. Music, music, music. Boys, boys, boys durch einen Songtitel aus der Slits-Zeit ersetzt hat.
Es ist ein feiner, weil mit viel Witz, ein sensibler, da eindringlich geschriebener Rückblick auf gelebte 60 Jahre. Von der Familie, die ihr liebesunfähiger korsischer Vater sitzen lässt, über die abgebrochene Kunstschule zum DIYEinstieg in Londons Musikszene. Die Hauptstadt Britanniens ist in den Siebzigern noch dreckig, abgeranzt, mit ein paar Pfund lässt es sich gut leben.
Sie freundet sich eng an mit Sid Vicious, als er Albertines erste Band The Flowers of Romance killt, mit Mick Jones, der gerade The Clash gründet, mit Malcolm McLaren und Vivienne Westwood. Erlebt die ersten Auftritte der Sex Pistols in Reihe eins. Und steigt 1977 als Gitarristin in die erste rein weibliche Punkband, The Slits, ein. Tourt. Übernimmt die Organisation. Und sieht, wie im November 1981 alles endet. Hält sich, es sind schließlich die 80er, zwei Jahre als Aerobic-Kursleiterin über Wasser.
Studiert dann Film. Ist zehn Jahre lang Regisseurin. Heiratet. Bekommt eine Tochter. Zieht mit Grafikermann ins südostenglische Hastings. Ist Hausfrau, Mutter. Und unglücklich. Übersteht eine Krebserkrankung. Greift nach 20 Jahren wieder zur Gitarre. Lernt alles wieder, auf die harte Tour, singt sich durch Open Mikes in südenglischen Pubs. Singt mehr. Lässt sich scheiden. Verliebt sich wieder, verheerend, in einen Psycho. Macht wieder, zurück in London, Musik. Hat Erfolg. Kämpft, komponiert, geht aus, nimmt eine Soloplatte auf. Und sieht am Ende immer mehr Freunde sterben.
Es ist weit mehr als nur ein Einund schöner Rückblick auf prädigitale, ordentlich verdrogte, heimelig desorganisierte und PR-ferne Musikzeiten. A Typical Girl ist ein hochsympathischer Entwicklungsroman, gänzlich unverstellt, und war für Viv Albertine, die hochkant ihren Manager hinauswarf, weil er ihr eine professionelle Ghostwriterin auf die Nase binden wollte, was für sie nicht infrage kam, über viele Passagen hinweg genauso schmerzhaft zu schreiben, wie er für uns zu lesen ist. Dann wiederum gibt es verschmitzte, peinliche und zum Brüllen komische Szenen.
Viv Albertine, „A Typical Girl“. Aus dem Englischen von Conny Lösch.“€ 18,50 / 480 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2016
Hinweis: Viv Albertine liest am 9. und 10. September bei den 14. Literaturtagen Sprachsalz in Hall in Tirol. www.sprachsalz.com