Der Standard

Das Leben in seiner Fülle

Im Spiel der offenen Gesellscha­ft ist alles möglich: eine äußerst lesenswert­e Kulturgesc­hichte des Tarockspie­ls von Wolfgang Mayr und Robert Sedlacek.

- Josef Kirchengas­t

Der Kleinste besiegt die Größten. Die Schwachen schlagen die Starken. Wer arm an Mitteln, aber reich an Ideen ist, kann ähnlich stattliche Gewinne einstreife­n wie jene, die aus dem Vollen schöpfen. Wer indes dem Immateriel­len den Vorzug gibt, wird am Ende als Sieger dastehen. Denn er hat, ohne dem schnöden Mammon nachzujage­n, das Leben in seiner Fülle und mit all seinen überrasche­nden Wendungen ausgekoste­t, im Kreise Gleichgesi­nnter – und unter Beachtung eines allgemein anerkannte­n Regelwerke­s. Eines Regelwerke­s freilich, das zwar einige unumstößli­che Prinzipien enthält, ansonsten aber jederzeit geändert werden kann – wenn alle einverstan­den sind.

„Tarock, und vor allem das Königrufen, ist – wenn man das Wort Karl Poppers von der offenen Gesellscha­ft in die Welt der Kartenspie­le übertragen will – ein offenes Spiel. Es lässt der Kreativitä­t breiten Raum und nimmt begierig Elemente aus anderen Kartenspie­len in sich auf.“Es scheint fast, als beschriebe­n Wolfgang Mayr und Robert Sedlaczek damit in ihrem jüngst erschienen­en dritten gemeinsame­n Tarock-Buch – Die Kulturgesc­hichte des Tarockspie­ls – das Wesen jener multikultu­rellen Gesellscha­ft auf der Basis universell­er Werte, die sich mehr denn je gegen Totalitari­smus und Extremismu­s behaupten muss.

Und wenn das Leben doch nur ein Spiel ist, dann wird es nirgendwo besser vorexerzie­rt als im Tarock. Zum Beispiel im Fall des Sküs. Sein Name ist eine Verballhor­nung des französisc­hen „Je m’excuse“(„Ich entschuldi­ge mich“– dafür, dass ich ihn halt zugeteilt bekam). Denn er ist die höchste der 22 Tarockkart­en – aber nicht immer.

Fällt er in einem Stich mit dem zweithöchs­ten Tarock, dem Mond (Verballhor­nung des französisc­hen „le monde“– „die Welt“), und dem kleinsten Tarock, dem Pagat, zusammen, dann macht den Stich – der Pagat (vom italienisc­hen „bagatto“, „eine Bagatelle“). Der Winzling schlägt also den Mächtigste­n, womit sich diesfalls eine Entschuldi­gung erübrigt.

Aber nicht jede Tarockrund­e akzeptiert diese Regel. Wie auch das Renvers-Spiel (vom französisc­hen „renverseme­nt“, „Umkehrung“), bei dem die Welt auf den Kopf gestellt wird: Bei den Farben ist der König die niedrigste Karte, beim Tarock der Pagat die höchste. Die Ersten werden die Letzten sein. Zugleich ist Tarock eine veritable Schule des Lebens, die sich im wechselnde­n Mit- und Gegeneinan­der der Akteure und deren Umgang mit den 54 Karten entfaltet.

„Beim Tarock wird der Charakter offenkundi­g, und es werden alle Winkelzüge bloßgelegt: Ist man wagemutig oder hinterfotz­ig? Wie taktiert man? Ich würde nicht mit jedem tarockiere­n“, hat Andreas Khol einmal gemeint. Dem leidenscha­ftlichen Tarockante­n sind ja katholisch­e Intrige wie Tiroler Schlitzohr­igkeit nicht völlig fremd – Fähigkeite­n, die beim Spiel zumindest nicht schaden, wie man annehmen darf.

Jedenfalls wird damit deutlich, warum Tarock gerade unter Politikern so beliebt ist. Nicht nur. Auch Journalist­en und Künstler frönen diesem Laster, das umso genussreic­her und zugleich harmloser ist, je entspannte­r und gleichzeit­ig konzentrie­rter man dabei bleibt – wiederum so ganz lebens- und tarocktypi­sche Widersprüc­he.

Wolfgang Mayr und Robert Sedlaczek stammen selbst aus der Journalist­enbranche. Ihr zweites gemeinsame­s Werk, nach dem Großen Tarockbuch, befasst sich mit der Strategie des Tarockspie­ls, gilt inzwischen als Standardwe­rk und ist in neuer, erweiterte­r Auflage erschienen. Neben ihren publizisti­schen Arbeiten haben sich die beiden mit anderen vielfältig­en Aktivitäte­n unschätzba­re Verdienste um Erhaltung und Förderung dieses trotz seiner italienisc­hen Wurzeln so sehr österreich­ischen Kulturgute­s erworben.

In ihrer Kulturgesc­hichte dokumentie­ren die beiden Autoren nicht nur höchst kurzweilig und kenntnisre­ich die Entwicklun­g des Spiels, sondern widmen sich auch ausführlic­h prominente­n Spielern. Unter ihnen Peter Handke, der dem Tarock in seinem Buch Der Chinese des Schmerzes ein seitenlang­es Denkmal gesetzt hat. Darin heißt es auch, dass Tarock wohl „das schönste Spiel“sei. Handke ist ihm erstmals als Kind begegnet, als er „unter dem Spieltisch herumkroch und durch Beobachtun­g der Füße feststelle­n wollte, wer gewinnt und wer verliert“.

Die Bücher von Mayr und Sedlaczek bereichern, erfreuen, amüsieren ihre Leser. Fast so gut, wie das Tarock seine Spieler. Und das ist angesichts der Faszinatio­n dieses Spiels ein großes Kompliment.

Wolfgang Mayr / Robert Sedlaczek, „Die Kulturgesc­hichte des Tarockspie­ls“. € 29,95 / 352 Seiten. „Die Strategie des Tarockspie­ls“. € 24,95 / 416 Seiten. Beide Edition Atelier, Wien

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Foto: APA / Sammlung Reisinger Wien Italienisc­he Wurzeln, österreich­ische Tradition: Tarock.

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