Kinder des Lichts
Mag sein, dass ein Mädchen fragil ein Gedicht von Richard Brautigan, Allen Ginsberg oder Jack Kerouac rezitiert. Mag sein, dass der elegisch elektrisierende Soundtrack aus dem Off von Jim Morrison stammt. Mag sein, dass schrill ein Ton von Miles Davis’ Trompete durch die Nacht jagt. Mag sein, dass ein Joint die Runde macht und eine frische Line kolumbianischer Provenienz gelegt wird. Die Wahrheit, heißt es, ist so weiß wie Schnee. Mag sein, dass ein junger Gott, der verdammt an den jungen Richard Gere erinnert, gerade an sich selbst Hand anlegt. Mag sein, dass ein Pärchen ungeniert in Anwesenheit anderer Sex hat; im selben Hinterzimmer der Factory, in dem die sagenumwobene Genitalien-Polaroid-Collection von Andy Warhol lagert. Mag sein, dass die karibische Schwüle, von Havanna kommend, sich zwischen den phallischen Pylonen des Big Apple breitmacht. Szenenwechsel: Coney Island. Szenenwechsel: San Francisco. Dann wieder New York, Studio 54, die Hamptons, Bars, Clubs, Wohnzimmer, Rooftop-Gardens. Bilder vom Begehren, vom Müßiggang, vom Leben. Seit den 1970er-Jahren begleitet Billy Sullivan mit der Kamera die Underground- und Kunstszene New Yorks und verwendet seine Fotografien als Vorlage für Ölbilder, Pastellzeichnungen oder aufwendige mehrteilige Diainstallationen. Der 1946 in Brooklyn geborene Künstler zeigt Freunde, Familie, Liebhaber, Musen als mondäne Demimonde. In Sullivans Bilderwelt verschwimmen Grenzen von Underground und High Society, von Oberfläche und Abgrund. Still looking zeigt Fotos, Gemälde, Aquarelle, den Dialog zwischen Kamera und Pinsel, der sein Werk prägt. Sinnlich, lasziv, beiläufig, alltäglich, ohne Voyeurismus, ohne Melancholie. Beseelt von Zuneigung und Liebe. Kinder des Lichts. Chronik einer New Yorker Boheme. Mit der Grandezza der Selbstverständlichkeit. Gregor Auenhammer
Billy Sullivan, „Still looking. 1969–2016“(Texte: W. Simmons, L. Yablonsky). € 70,– / 270 Seiten. Edition Patrick Frey, Zürich 2016