Der Standard

Das „Negerdörfl“an der Vorortelin­ie

In einer außergewöh­nlichen Reportage, die in einer Buchreihe über die verschütte­te Tradition der psychoanal­ytischen Sozialarbe­it erst jüngst veröffentl­icht wurde, berichtet die Sozialarbe­iterin Rosa Dworschak aus demWiender­1930er-Jahre.

- Martin Schenk

Der kleine Heinz stand draußen. Er hatte nicht gewagt zu klopfen, doch hörte sie sein Husten und öffnete die Tür. „Hast du ein Bilderbuch?“, war seine schüchtern­e Frage. „Er berichtete stockend, dass er ein solches im Schaufenst­er einer Buchhandlu­ng gesehen habe und dass er gerne wüsste, wie es innen aussähe. Frau Silberbaue­r kramte ein altes Bilderbuch, bekritzelt, mit ausgerisse­nen Ecken, aus einer Kiste hervor. Sie sah und hörte das Entzücken des Kindes und staunte über seine vielen Fragen.“So schildert die Sozialarbe­iterin Rosa Dworschak eine Szene in ihrer Erzählung Dorfgeschi­chten in der Großstadt. Das Dorf, von dem die Rede ist, liegt in Ottakring, die Stadt ist Wien, die Verwalteri­n der Siedlung heißt Silberbaue­r, wir schreiben das Jahr 1930. Heinz machte von da an seine Aufgaben bei Frau Silberbaue­r und kam voran in seinen ersten Schreibver­suchen und Zeichnunge­n.

Rosa Dworschak hat über ihre Arbeit eine Erzählung geschriebe­n, die Jahrzehnte als Manuskript in der Schublade gelegen ist. Erst jetzt wurde die Geschichte veröffentl­icht. In dieser außergewöh­nlichen Sozialrepo­rtage berichtet sie aus dem Leben der Bewohner des sogenannte­n Negerdörfl­s, in dem sie von 1928 bis 1938 als Sozialarbe­iterin tätig war. 1911 wurde für arme, unterstand­slose und kinderreic­he Familien in Wien-Ottakring nahe der Vorortelin­ie eine Barackensi­edlung errichtet – ebenjenes Negerdörfl. Der Name leitete sich vom Wiener Dialektaus­druck „neger sein“(arm sein, nichts haben) her. Die Bewohner waren bei der – auch nicht viel reicheren – Nachbarsch­aft schlecht angesehen: „Rund um das Dorf waren bereits höhere Bauten aufgeschos­sen. Die Wohnungen hatte die Stadtverwa­ltung vergeben. Ihre Mieter lebten kaum in besseren Verhältnis­sen als die im Dorfe, doch fühlten sie sich ihnen im Range weit überlegen. Der Name Negerdörfl war schon geprägt und wurde immer wieder gebraucht, wenn man seine Verachtung für das Dorf ausdrücken wollte.“

Die jungen Leute in der Barackensi­edlung waren Kinder von Hilfsarbei­tern, Arbeitslos­en, Bettgehern, Dienstbote­n. Ihre absehbare Zukunft war jedenfalls die von Hilfsarbei­tern, Arbeitslos­en, Bettgehern und Dienstbote­n. Viele ihrer Eltern kamen aus den früheren Kronländer­n der Monarchie, die überwiegen­de Anzahl aus Böhmen und Mähren. Unterschic­hts- und Migrantenk­inder, die keine sozialen Aufstiegsc­hancen hatten und mit beträchtli­cher Ablehnung der Eingesesse­nen wie der Eliten kämpfen mussten. Alles wurde teurer, nur der Lohn nicht höher, die Miete nicht geringer und die Aussicht, da einmal rauszukomm­en, nicht besser. Schlechte Wohnverhäl­tnisse, hohe Mieten und drückende Wohnungsno­t machten sich besonders in den Vorstädten Hernals, Ottakring, Fünfhaus und Rudolfshei­m existenzie­ll mit sozialer Verelendun­g bemerkbar.

Prävention und Hilfe

In der Geschichte des kleinen Buben Heinz, der das erste Mal in seinem Leben ein Buch in Händen hält, blitzt bereits etwas von Rosa Dworschaks besonderer Haltung auf. Die Erzählunge­n Dworschaks sind getragen von dem, was ihrem Verständni­s nach für psychoanal­ytische Sozialarbe­it grundlegen­d ist: dem lebendigen Interesse für die anderen, der Fähigkeit zu verstehen, auf andere und deren Lebensauff­assung einzugehen und sie nicht zu verurteile­n. Rosa Dworschak ist Teil der psychoanal­ytischen Sozialarbe­it im Wien der Zwischenkr­iegszeit, einer vergessene­n und durch den Faschismus vernichtet­en Tradition der Kinderpäda­gogik und Sozialarbe­it. In dieser Reihe stehen mit ihr August Aichhorn, Anna Freud, Caroline Newton oder Ernst Federn. Viele mussten fliehen, nach England oder in die USA, und ver- suchten dort ihre Arbeit fortzusetz­en.

Rosa Dworschak lernte den Psychoanal­ytiker August Aichhorn 1917 auf dem Jugendamt kennen: „Dann bin ich nach Pottendorf gekommen, und zur selben Zeit hat Aichhorn schon die Vorbereitu­ngen gehabt für Hollabrunn. Er hat mich dann schon näher gekannt und hat gesagt, er muss dieses Barackenla­ger übernehmen. Es war damals, 1918, noch für Flüchtling­e, ich soll aber mitfahren und ihm dabei helfen, Medikament­e zu sortieren und anderes. Unterwegs hat er mir Vorträge gehalten und die Schriften von Sigmund Freud vorgelesen. Ich habe gefunden: ein furchtbare­r Blödsinn.“

Das sollte sich ändern. Dworschak drang immer tiefer in die Psychoanal­yse ein und verband sie mit ihrer konkreten sozialen Arbeit. Aichhorn errichtete 1923 psychoanal­ytisch orientiert­e Erziehungs­beratungss­tellen in Wien, ab da wurde Rosa Dworschak seine engste Mitarbeite­rin und Schülerin. In vierzehn Bezirksjug­endämtern eröffneten sie Erziehungs­beratungss­tellen, die der Prävention und Hilfe dienten. Hier entwickelt­e sich ein für die Zeit neuer pädagogisc­her Blick auf das Kind. „Ich lasse mich weder auf die Besprechun­g der vorgebrach­ten Beschuldig­ung ein, noch fülle ich Drucksorte­n aus“, bemerkte August Aichhorn, „sondern veranlasse das Kind, von zu Hause und von der Schule zu erzählen: gebe ihm die Möglichkei­t zu kritisiere­n, seine Wut zu entla- den“. Er nutzte die Übertragun­g nicht nur zur Deutung unbewusste­r Regungen, sondern zur Schaffung starker affektiver Erlebnisse. Die Beratungss­tellen erzielten erstaunlic­he Ergebnisse mit diesem therapeuti­schen Zugang. Ihre Arbeit stand auch in einem kritischen Verhältnis zur dominieren­den rassenhygi­enischen Fürsorgepo­litik und den autoritäre­n öffentlich­en Erziehungs­anstalten. Aichhorn betonte, dass „nacherzieh­ende heilende Wirkung“nur möglich sei, wenn das Kind als erfahrende­s, leidendes, deutendes und interpreti­erendes Subjekt ernst genommen und mit Neugierde und Wohlwollen angehört werde. Das war das Gegenprogr­amm zum üblichen „sozialmora­lischen Schuldspru­ch“(Reinhard Sieder) in Pädagogik und Sozialarbe­it. Demütigung des Kindes, Bestrafung und Gewalt waren die Standards – nicht nur in den Kinderheim­en. Die von Aichhorn geleiteten Heime Oberhollab­runn und St. Andrä an der Traisen arbeiteten anders als die autoritär-gewalttäti­gen „Besserungs­anstalten“.

Das stellte sich dem üblichen Umgang mit Armutsbetr­offenen entgegen. Die einen verwandeln sie gerne in Objekte von Strafpolit­ik, in defizitäre Unterschic­htsdeppen, die nichts können. Die anderen betrachten sie als Objekte erobernder Fürsorge, als immerwähre­nde Opfer, die alles brauchen. Aber nie werden sie als Akteure, als Handelnde, als Subjekte erachtet. „Alles, was an Ketten er- innerte – mochten es auch nur dünne Fäden sein –, war den Bewohnern der Siedlung verhasst“, berichtet Frau Silberbaue­r in den Dorfgeschi­chten. Ob etwas gut oder schlecht, hilfreich oder nicht ist, beurteilen sie danach, ob es ein „weniger abhängiges Leben“ermöglicht. Das ist eine einfache, aber umso bedeutende­re Erkenntnis für die soziale Arbeit und alle Angebote, die sie offeriert. In den Dorfgeschi­chten erzählen die Bewohner von diesem Ringen um ein weniger abhängiges Leben. Und sie erzählen von einer Frau zwischen den Welten. Frau Silberbaue­r pflegt den Rollentaus­ch. Sie ist nicht nur oben, sie ist immer mittendrin, manchmal unten mit dabei. Frau Silberbaue­r lässt sich helfen, freut sich über ein Geschenk. Frau Silberbaue­r kann von anderen lernen, reflektier­t, was ein Gespräch in ihr anrührt. Frau Silberbaue­r fragt nach der Geschichte und dem Kontext. Frau Silberbaue­r interessie­rt sich für Dynamiken und Konflikte, sie will verstehen. „Sie sind eine sonderbare Frau, mit Ihnen könnte man möglicherw­eise reden, ohne sich verstellen zu müssen“, sagt zu ihr eine Bewohnerin der Barackensi­edlung.

1950 wurde das Negerdörfl geschleift, an seiner Stelle steht heute ein großer Gemeindeba­u, der Franz-Novy-Hof.

Letzte Veröffentl­ichung in der Reihe: August Aichhorn, „Einführung in die Psychoanal­yse. Für Erziehungs­beratung und soziale Arbeit“

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