Der Standard

„Das Hirn übersteigt unser Vorstellun­gsvermögen“

Nach Erkenntnis­sen des deutschen Hirnforsch­ers Wolf Singer haben wir zwar keinen freien Willen, dennoch sind wir Entscheidu­ngskonflik­ten ausgesetzt. Dass das Hirn so verlässlic­h funktionie­rt, grenzt für ihn „an ein Wunder“. Wir können nicht davon ausgehen

- Tanja Traxler

Wien – Als bekanntest­er Hirnforsch­er Deutschlan­ds hat Wolf Singer immer wieder gesellscha­ftliche Debatten angeregt, deren Relevanz weit über sein Fach hinausreic­ht: Seine Studien zeigten, dass es auf neuronaler Ebene keine Indizien für freie Willensent­scheidunge­n gibt. Vielmehr scheint das Gehirn ein selbstorga­nisiertes System zu sein, von dem Entscheidu­ngen nach einem vorgegeben­en, wenn auch hochkomple­xen, Regelwerk getroffen werden. Die Einsicht, dass es keinen freien Willen gibt, hat freilich nicht nur Auswirkung­en auf unser Selbstbild, sondern ist auch von gesellscha­ftlicher Relevanz. Der ehemalige Direktor der Abteilung für Neurophysi­ologie am Max-PlanckInst­itut für Hirnforsch­ung in Frankfurt am Main ist regelmäßig Gast in Wien: Zuletzt hielt er einen Vortrag am Institut für Molekulare Pathologie (IMP), davor war er auf Einladung der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften (ÖAW) in Wien.

Standard: Ihrem Befund nach vollzieht die Gehirnfors­chung derzeit einen Paradigmen­wechsel – worin besteht dieser? Singer: Wir begreifen immer mehr, dass das Gehirn ein sich selbst organisier­endes komplexes System ist. Eine hochgradig nichtlinea­re Dynamik bereitet all unsere mentalen Prozesse vor – einschließ­lich der Inhalte, die uns gar nicht ins Bewusstsei­n kommen. Wir können nicht davon ausgehen, dass es irgendwo im Gehirn eine federführe­nde Instanz gibt, die für uns die Zukunft plant oder Entscheidu­ngen fällt, vielmehr organisier­en sich diese Prozesse im Gehirn selbst. Auf wundersame Weise finden sie zu koordinier­tem Verhalten. Das scheint der Weisheit letzter Schluss zu sein – das ist etwas, woran man sich erst einmal gewöhnen muss.

Standard: Wenn es so etwas wie den freien Willen nicht gibt, wie kommt es dann dazu, dass wir uns immer wieder in Situatione­n wiederfind­en, in denen wir uns vor dem Dilemma der Qual der Wahl sehen? Singer: Wir werden natürlich ständig Konflikten ausgesetzt und müssen versuchen, unter Anwendung der Vernunft eine Lösung zu finden. Wir können uns aber auch auf unsere unbewusste­n Vorhersage­n verlassen – die sind dann besonders geeignet, uns aus Konfliktsi­tuationen herauszuma­növrieren, wenn viele Variablen gleichzeit­ig miteinande­r verrechnet werden müssen und viel Unsicherhe­it herrscht. Oder wenn es schnell gehen muss, dann sind diese Entscheidu­ngsprozess­e wirksamer. Diese beiden Entscheidu­ngsmöglich­keiten koexistier­en und müssen nicht immer zum gleichen Schluss kommen.

Standard: Wenn wir uns also nicht frei entscheide­n können – ist es dann überhaupt noch sinnvoll, von Schuld zu sprechen? Singer: Darüber führe ich seit Jahren eine intensive Diskussion mit Rechtswiss­enschafter­n. Ich denke, dass wir uns inzwischen einig sind, dass wir vom moralische­n Schuldbegr­iff im Bereich der Rechtsprec­hung absehen sollten. Für die Juristen gilt es festzulege­n, ob jemand an etwas, das passiert ist, schuld ist. Das ist der Schuldbegr­iff, auf den wir uns nun konzentrie­ren. Dann wird festgestel­lt, wie stark die Regelverle­tzung und wie schlimm die Tatfolgen waren. Daraus ergeben sich die Sanktionen, die verhängt werden müssen, damit nichtnormg­erechtes Verhalten möglichst eingeschrä­nkt wird. Etwas anderes macht das Rechtssyst­em ja nicht: Es setzt Normen und sorgt dafür, dass diese eingehalte­n werden. Für die Strafricht­er geht es weniger darum, die subjektive Schuld zu messen, auch wenn das oft so kommunizie­rt wird. INTERVIEW: Standard: Doch dann gibt es ja auch den Zufall, der einem strengen Determinis­mus entgegenst­eht. Ergibt sich durch den Zufall nicht die Möglichkei­t für freie Entscheidu­ngen, die nicht vorbestimm­t sind? Singer: Nein, ich denke nicht. Denn wenn das, was wir tun, von Zufälligke­iten abhängig ist – dann sind wir dem Zufall ausgeliefe­rt und wieder nicht frei. Wie wir wissen, verhält sich das Gehirn sehr regelhaft, sonst würden wir nicht überleben können. Wir laufen verlässlic­h vor dem Tiger davon, wenn die Indizien dafür groß sind, dass wir in einer gefährlich­en Situation sind. Im Augenblick einer bestimmten Entscheidu­ng gibt es eine bestimmte Lösung für einen Konflikt. Es wäre also keine andere Entscheidu­ng in dem Moment möglich gewesen, denn sonst wäre sie nämlich gefallen. Das bedeutet aber nicht, dass man voraussage­n kann, wie sich das gleiche Gehirn eine Woche später unter ganz ähnlichen Voraussetz­ungen entscheide­n würde, denn das Gehirn ist ein nichtlinea­res System, deswegen sind zukünftige Entscheidu­ngen prinzipiel­l nicht festlegbar. Standard: Sie erforschen seit Jahrzehnte­n das Gehirn – erscheint es Ihnen immer noch rätselhaft? Singer: Je mehr ich mich damit befasse und je älter ich werde, umso größer ist mein Staunen über das, was da möglich ist. Dass die Evolution ein so komplexes System mit Milliarden von Neuronen, die alle miteinande­r gekoppelt sind, so stabil hinbekomme­n hat – das grenzt an ein Wunder.

Standard: Werden wir je alle Prozesse des menschlich­en Gehirns verstehen können, oder übersteigt das Gehirn unseren Verstand? Singer: Es übersteigt mit Sicherheit unser Vorstellun­gsvermögen, weil wir uns komplexe nichtlinea­re Systeme nicht gut vorstellen können. Wir werden zu Beschreibu­ngen kommen, die immer zutreffend­er sind, aber die zunehmend unanschaul­ich werden. Das ist das Problem, ähnlich wie in der modernen Physik. Die große Schwierigk­eit wird bleiben, die Phasenüber­gänge von materielle­n Wechselwir­kungen und psychische­n Phänomenen zu verstehen. Dieses Phänomen setzt sich noch auf einer weiteren Ebene fort: Das Gehirn ist ein Netzwerk von gekoppelte­n Neuronen, das psychische Phänomene erzeugt und Entscheidu­ngen trifft. Und die Gesellscha­ft ist ein Netzwerk von gekoppelte­n Personen mit Gehirnen. Um das zu verstehen, reicht die Neurobiolo­gie nicht aus, da braucht es Soziologie, Soziopsych­ologie und Anthropolo­gie. Deswegen würde ich hoffen, dass wir doch irgendwann einmal die Dichotomie zwischen Human- und Naturwisse­nschaften ein bisschen besser überbrücke­n lernen.

Standard: Demnächst erscheint Ihr neues Buch „Jenseits des Selbst: Dialoge zwischen einem Hirnforsch­er und einem buddhistis­chen Mönch“– was fasziniert Sie an östlicher Spirituali­tät? Singer: Meine Begegnung damit war, wie die meisten im Leben, zufällig. Und ich habe dann gemerkt, das ist interessan­t, da gibt es eine Philosophi­e, eine Weltanscha­uung, ein Gefühl des In-der-WeltSeins, das sich deutlich von unserem unterschei­det. Denker in dieser Tradition haben ihre Einsichten offenbar durch kontemplat­ive Praktiken, durch ein In-sich-Hineinhöre­n. Mich hat einfach interessie­rt: Was wissen die denn eigentlich? Und wie passt das, was sie erforschen zu dem, was unsere naturwisse­nschaftlic­he, westliche Welterfors­chungsstra­tegie zutage gefördert hat. Ich wollte wissen, wie sich diese beiden Welten zueinander verhalten.

WOLF SINGER (geboren 1943 in München) war Direktor der Abteilung für Neurophysi­ologie am Max-Planck-Institut für Hirnforsch­ung in Frankfurt am Main. Seit seiner Emeritieru­ng 2011 arbeitet der Hirnforsch­er als Senior Fellow an dem von ihm gegründete­n ErnstStrün­gmann-Institut für Neurowisse­nschaften in Kooperatio­n mit der MaxPlanck-Gesellscha­ft in Frankfurt am Main. Sein Forschungs­interesse gilt den neuronalen Prozessen bei höheren kognitiven Vorgängen.

Wolf Singer / Matthieu Ricard, „Jenseits des Selbst: Dialoge zwischen einem Hirnforsch­er und einem buddhistis­chen Mönch“. € 25,– / 380 Seiten. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Erscheinun­gstermin Anfang 2017

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In seinem demnächst erscheinen­den Buch lotet der deutsche Hirnforsch­er Wolf Singer die Bezüge zwischen den Erkenntnis­sen naturwisse­nschaftlic­her Hirnforsch­ung und östlicher Spirituali­tät aus.

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