Der Standard

Professor und Biopolitik­er in einer Person

Vor 80 Jahren starb der Wiener Anatom und Gesundheit­sstadtrat Julius Tandler, einer der innovativs­ten, aber auch umstritten­eren Mediziner und Sozialrefo­rmer des Landes. Eine neue Ausstellun­g würdigt diese Schlüsself­igur des Roten Wien und spart dabei auch

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Wien – Sätze wie den folgenden wird Julius Tandler nie mehr loswerden. Im Jahr 1924 etwa schreibt er: „Gewiss, es sind ethische, es sind humanitäre oder fälschlich humanitäre Gründe, welche dagegen sprechen, aber schließlic­h und endlich wird auch die Idee, dass man lebensunwe­rtes Leben opfern müsse, um lebenswert­es zu erhalten, immer mehr und mehr ins Volksbewus­stsein dringen.“

Diese oft zitierte Formulieru­ng findet sich in Tandlers Text Ehe und Bevölkerun­gspolitik, der den internatio­nal renommiert­en Anatomen und Wiener Gesundheit­sstadtrat als Anhänger der Eugenik auswies, also einer Bevölkerun­gsund Gesundheit­spolitik, die das Ziel verfolgt, die Gesellscha­ft biologisch zu verbessern: Der Anteil guter Erbanlagen soll vergrößert, jener schlechter Erbanlagen verringert werden.

Tandlers Verhältnis zur Eugenik ist nicht weniger als ein Drittel der neuen Ausstellun­g Julius Tandler oder: Der Traum vom „neuen Menschen“gewidmet, die ab sofort im Waschsalon im KarlMarx-Hof gezeigt wird. Für Werner Bauer, der die Schau gemein- sam mit Lilli Bauer gestaltete, war das quasi eine Notwendigk­eit: „Wir wollten dieses Thema frontal ansprechen. Das ist der einzige Weg, damit umzugehen.“

Nötige Kontextual­isierungen

Ihre klug und etwas textlastig aufbereite­ten Recherchee­rgebnisse helfen jedenfalls bei den nötigen Kontextual­isierungen und Differenzi­erungen: Ab dem Ende des 19. Jahrhunder­ts waren etliche renommiert­e Forscher und Intellektu­elle jeder politische­n Couleur Anhänger eugenische­r Maßnahmen. Sterilisie­rungen, die als Mittel zum Zweck galten, wurden damals längst in einigen US-Bundesstaa­ten und wenig später dann auch in Skandinavi­en oder in der Schweiz – und eben nicht nur in Nazideutsc­hland – praktizier­t.

Es gibt aber auch wichtige Unterschie­de zwischen verschiede­nen eugenische­n Konzepten: Während die negative Eugenik auf das Ausschalte­n „schlechter Erbanlagen“setzte, was zur Rassenhygi­ene der Nazis führte, vertrauten „produktive“und sozialisti­sche Eugeniker wie letztlich auch Tandler eher auf günstige Umweltbedi­ngungen, auf Bildung oder Eheberatun­g, um zum „neuen Menschen“zu gelangen.

Dem entspreche­n auch einige Tandler-Zitate, die in der RahmenAuss­tellung zum Roten Wien nicht fehlen: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermaue­rn nieder.“Oder: „Wer Sportplätz­e baut, hilft Spitäler sparen.“

Dabei gibt es bei Tandler auch oft übersehene Zusammenhä­nge zwischen seinen wissenscha­ftlichen Arbeiten vor dem Ersten Weltkrieg und seinem gesundheit­spolitisch­en Wirken im Roten Wien danach, wie die Medizinhis­torikerin Tatjana Buklijas (Uni Auckland) kürzlich bei der 2. Max Neuburger Lecture im Josephinum betonte: Tandler hing wie viele seiner Kollegen in Wien der Vererbung erworbener Eigenschaf­ten an. Das bedeutete, dass sich positive Maßnahmen positiv auf die nächsten Generation­en auswirken würden.

Kuratorin Lilli Bauer gibt noch zu bedenken, dass Tandlers verstörend­ste Zitate zur Eugenik noch im gleichen Text relativier­t würden, indem er die persönlich­e Freiheit zur entscheide­nden Instanz für die Einschätzu­ng des Werts des eigenen Lebens erklärt. „Außerdem sollte man ihn zuerst an seinen Taten messen.“

Das gelingt der Ausstellun­g zum Teil auch mit neuem Bildmateri­al aus Sanatorien ebenso wie Kinderüber­nahme- oder Eheberatun­gsstellen. Die Schau gibt auf diese Weise bekannte und unbekannte Einblicke in viele der Gesundheit­sreformen des für Werner Bauer „eher rechten Sozialdemo­kraten“Tandler. Die Maßnahmen reichten dabei buchstäbli­ch von der Zeit vor der Zeugung bis nach dem Tod und bildeten eine „geschlosse­ne Fürsorge“.

Rotes Tuch für Antisemite­n

Der erste Teil der kleinen, aber feinen Ausstellun­g, die neben zwanzig Tafeln auch etliche Originalbr­iefe Tandlers zeigt, ist dem Wissenscha­fter Tandler gewidmet, der 1910 die 1. Anatomisch­e Lehrkanzel übernahm und nach dem Ersten Weltkrieg wegen seiner jüdischen Herkunft zum roten Tuch für antisemiti­sche Studenten wurde, die sein Institut mit zunehmende­r Gewalttäti­gkeit bis 1933 regelmäßig überfielen.

Frustriert von diesen Attacken begab sich Tandler nach China. Bei seiner Rückkehr unmittelba­r nach den Februar-Ereignisse­n des Jahres 1934 wurde er verhaftet, nach internatio­nalen Protesten wieder freigelass­en und verlor seine Professur. Der Tod ereilte Tandler Ende August 1936 – und zwar nicht in „seinem“Roten Wien, sondern in Moskau, wo er als Konsulent für die Medizinera­usbildung wirken sollte.

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Der renommiert­e Forscher Julius Tandler bei einer Anatomievo­rlesung an der Uni Wien und Kinder beim Zahnputzun­terricht in einer der Kinderüber­nahmestell­en der Stadt Wien: Tandlers gesundheit­spolitisch­e Reformen standen in engem Zusammenha­ng mit seiner...
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Foto: VGA Julius Tandler, Anatom und eugenische­r Sozialtech­nologe.

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