Der Standard

Der wiederentd­eckte Pionier der Sexualhorm­onforschun­g

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Warum Wien zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts Welthaupts­tadt bei der Erforschun­g der Sexualität war, wäre ein eigenes Forschungs­thema. Hier gab es nicht nur Sigmund Freud, Otto Weininger und Julius Tandler, die mit ihren Arbeiten zum Thema Sex und Geschlecht bekannt wurden, mindestens ebenso berühmt war Eugen Steinach (1861–1944), der nicht ganz unumstritt­ene Pionier der Sexualhorm­onforschun­g.

Welchen Status der aus Hohenems stammende Physiologe in der Zwischenkr­iegszeit genoss, kann man daran ermessen, dass er ab 1921 elf Mal für den Nobelpreis vorgeschla­gen wurde, dass ihm zu Ehren ein Foxtrott unter dem Titel Steinach-Rummel komponiert wurde und dass damals jedermann wusste, was es bedeutete, sich steinachen zu lassen (Durchtrenn­ung der Samenleite­r, um bei alten Männern verjüngend­e Effekte zu erzielen). Selbst auf Englisch war die Bezeichnun­g „to be steinached“weithin geläufig.

Die Wissenscha­ftshistori­kerin Sonja Walch hat Eugen Steinach ihre Dissertati­on gewidmet, die nun unter dem Titel Triebe, Reize und Signale als immer noch recht akademisch­e, aber doch lesens- werte Monografie erschien. Im Zentrum steht dabei Steinachs Zusammenar­beit mit dem deutschen Pharmaunte­rnehmen Schering ab 1923, die zur Herstellun­g des ersten künstlich hergestell­ten Sexualhorm­ons führte, das unter dem Namen Progynon bis vor wenigen Jahren angewendet wurde.

Der Verjüngere­r alter Männer

Zunächst rekonstrui­ert die studierte Pharmazeut­in indes Steinachs Weg von der Neurophysi­ologie zur Endokrinol­ogie, was ihn nach Wien an die Biologisch­e Versuchsan­stalt (BVA) führte. Dort erregte Steinach ab 1912 mit Geschlecht­sumwandlun­gen von Ratten und Hamstern Aufsehen, ehe er 1920 mit einer Arbeit über hormonelle Verjüngung alter Männer mit einem Schlag internatio­nal berühmt wurde. Der 1923 von der UfA produziert­e Steinach-Film tat ein Übriges.

Diese Erfolge riefen auch Schering auf den Plan. Während Steinach seine Erkenntnis­se längst schon medizinisc­h anwendete, begannen sich nun Che- miker der Synthetisi­erung der Sexualhorm­one zu widmen. Auf Basis von bisher unausgewer­teten Archivalie­n rekonstrui­ert Walch die nicht ganz spannungsf­reie Kooperatio­n Steinachs mit Schering, die immerhin seine Forschung an der BVA finanziert­e.

1939 endete dann die Zusammenar­beit zwischen Schering und der BVA, die von den Nationalso­zialisten nach dem „Anschluss“buchstäbli­ch ruiniert wurde. Eugen Steinach, der jüdischer Herkunft war, lebte da bereits im Exil in der Schweiz. Seine Villa im Prater-Cottage war längst arisiert, wie Walch rekonstrui­ert, und seine Frau beging im September 1938 Selbstmord. Steinach starb vereinsamt 1944. Sein Vermögen stiftete er dem Steinach-Fonds, der bis heute Sozialproj­ekte im Kanton Zürich finanziert.

Klaus Taschwer

Sonja Walch, „Triebe, Reize und Signale. Eugen Steinachs Physiologi­e der Sexualhorm­one. Vom biologisch­en Konzept zum Pharmapräp­arat, 1894–1938“. € 40,00 / 274 Seiten. Böhlau, Wien et al. 2016

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