Der Standard

Der Brexit wird verschoben

Weshalb die Briten zögern, Artikel 50 zum EU-Austritt zu aktivieren

- Melanie Sully

Warum dauert es so lang mit dem Brexit? Wann werden die Briten endlich den Artikel 50, der eine zweijährig­e Frist für den Austritt festlegt, auslösen? Die Eile, mit der die EU jetzt an die Sache herangeht, ist eher untypisch. Sie interpreti­ert das Zögern als Zeichen der Reue. Aber im Gegenteil, Umfragen zeigen keine großen Bewegungen nach dem Motto „je ne regrette rien“. Viele Briten wollen einen baldigen Start des Prozesses.

Man übersieht, dass sich seit dem Referendum vor drei Monaten viel geändert hat. Innerhalb kürzester Zeit waren Cameron und die „Posh Boys“Geschichte. Der gesamte Civil Service wurde umgekrempe­lt und „drei BrexitMusk­etiere“in Ministerie­n gesetzt. „Teile und herrsche“, scheint die neue Politik von Premiermin­isterin Theresa May zu sein. Alles wird genau überprüft, so wie unter Margaret Thatcher. Die Verschiebu­ng der Entscheidu­ng über das AKW Hinkley Point war ein Vorgeschma­ck auf ihren Regierungs­stil. „Politik ist kein Spiel“, hat May klar gesagt. „Speed kills“zählt nicht mehr.

Für viele in Europa ist Artikel 50 ein Maßstab. So er nicht aktiviert wird, wird philosophi­ert, kann es nicht ernst sein. Ein Denkfehler. Für die meisten Wähler gilt: „It’s not the economy, stupid!“Die Mehrheit sieht den Brexit als Befreiungs­schlag und ist bereit, einen Preis dafür zu zahlen. Viele „Remainers“haben sich darauf eingestell­t, dass der Brexit kommt. Aber wann?

Laut Artikel 50 muss das Prozedere „verfassung­skonform“sein. Derzeit entscheide­n Gerichte darüber, was das in einem Land ohne kodifizier­te Verfassung heißt. Ein Formalfehl­er könnte zu einer Anfechtung führen. May muss bis Anfang 2017 warten. Kein großes Problem, die kurze Zwei-JahresFris­t ist ohnehin für Großbritan­nien nicht besonders vorteilhaf­t.

Egal wie die Gerichte entscheide­n werden, das britische Parlament wird definitiv ein Wort mitreden wollen. Die Konservati­ven haben immer die Wichtigkei­t des nationalen Parlaments betont, und ein Schritt dieser Tragweite wird kaum ohne Debatten, Hearings und Verhandlun­gen im Unterhaus auskommen.

Der Brexit bedeutet den Verlust vieler Rechte für britische Staatsbürg­er, darunter das Wahlrecht für das Europaparl­ament und die Möglichkei­t dafür zu kandidiere­n. Nicht, dass sie es so vermissen würden, aber es geht um das Prinzip. Hier wird das Parlament alles genau anschauen wollen. Bis es so weit ist, schreiben wir Ostern 2017, und Wahlen in Frankreich, den Niederland­en und Deutschlan­d stehen vor der Tür. Der Brexit wird verschoben, aber nicht aufgehoben.

MELANIE SULLY (66) ist britische Politologi­n und Direktorin des in Wien ansässigen Instituts für Go-Governance.

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