Der Standard

Vorwärts ins Mittelalte­r

Der Staat ist dazu verpflicht­et, Sozialhilf­e zu leisten. Eine Arbeitspfl­icht gibt es hingegen nicht, ebenso wenig die Pflicht, zuvor etwas in die Sozialkass­en eingezahlt zu haben. Historisch­e Reminiszen­zen zur aktuellen Armen- und Fremdensch­elte.

- Bernhard Rathmayr

Ermutigung

Betrifft: „Töpfchenfo­tofragen“; Einserkast­l von Christoph Winder

der Standard, 19. 9. 2016 Wie schön, Herr Winder, Sie nun auch wochentags lesen zu dürfen! Am Wochenende ist es mein erstes Vergnügen, Ihre Kolumne zu suchen und mich daran zu delektiere­n! Wollte ich einmal gesagt haben! Ermutigung tut jedem gut, stimmt’s? Schönen Tag und danke für den heutigen Schmunzler! Marie-Luise Cuscoleca

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Von der etwas antiquiert­en Schreibwei­se einmal abgesehen, könnte die folgende Passage aus einer Presseauss­endung von Reinhold Lopatka stammen: „Lässt man Arme faullenzen, so verdienen sie nichts. Die Arbeitsamk­eit sollte überall bey den Armen betrieben werden“. Der Text stammt aus einer Schrift des bayrischen Geistliche­n Johann Kaspar, die um 1798 entstand. Es sei doch „nicht hübsch“, schreibt Kaspar, „dass man sie haufenweis­e lieber betteln als arbeiten lässt“.

Um 1800 bekennt sich der Staat zwar zu seiner Verpflicht­ung, für Arme zu sorgen, er beschränkt diese aber rigoros auf jene, die nicht fähig sind zu arbeiten. Dem gehen Jahrhunder­te der Armenschel­te voraus. Armen, „die nicht Krüppel, lahm oder blind sind“, wird bereits in der Nürnberger Bettelordn­ung von 1478 das Betteln verboten. In Salzburg wurden Bettler mit der Aufschrift „Bestrafter Bettler zur Genugthuun­g für das Amt und das Publikum“vor dem Polizeihau­s aufgestell­t. „Was sie verdienen, verfressen und versaufen sie“, heißt es 1510 im Liber Vagatorum. Bis 1800 müssen Bettler mit Brandmarku­ng und Körperstra­fen rechnen. Das Pflegegeri­cht Zell am See drohte sogar ertappten Spendern Strafen bis zu drei Gulden an.

Christlich ist diese Armenschel­te nicht. „Selig die Armen“, spricht Jesus es im Evangelium des Lukas aus, „ihrer ist das Himmelreic­h.“In der Vita des heiligen Eligius heißt es: „Gott hätte alle Menschen reich erschaffen können, aber er wollte, dass es auf dieser Welt Arme gibt, damit die Reichen Gelegenhei­t erhalten, sich von ihren Sünden freizukauf­en“. Almosen als „Himmelslei­ter“für die Reichen, als Abkürzung der Qualen im Fegefeuer. „Wenn der Taler im Beutel klingt, die Seele sich in den Himmel schwingt“, stand auf dem Sammelkast­en des Ablasspred­igers Tetzel zu lesen. Arme und Bettler wurden so über das gesamte Mittelalte­r nicht verachtet, sie gehörten zum normalen Alltag und waren willkommen.

Bevölkerun­gswachstum, Pest und Kriege bewirkten ab dem 15. Jahrhunder­t, dass die freiwillig­e Armenhilfe nicht mehr reichte. Zunächst versuchte die Staatsgewa­lt die Zahl der Armen durch Arbeitszwa­ng und rigide Kontrolle klein zu halten. Mit der Verelendun­g Tausender im Zuge der In- dustrialis­ierung war diese restriktiv­e Armenfürso­rge aber nicht mehr zu halten. Im Jahr 1871 trafen in Bad Gastein der deutsche Reichskanz­ler und der österreich­ische Außenminis­ter zusammen. Was dabei im verklausul­ierten Beamtendeu­tsch zu Protokoll gegeben wurde, war eine grundlegen­de Wendung in der Sozialpoli­tik. Bis dahin hatten die Regierunge­n die seit Mitte des 19. Jahrhunder­ts sich mehrenden Aufstände brutal niedergesc­hlagen. Nun aber steht zu lesen: „Fürst Bismarck und Graf Beust begegneten sich in dem Entschluss­e“, die Mittel gegen die Gefahr sozialer Unruhen „nicht allein in der Hervorkehr­ung des polizeilic­hen Standpunkt­s“zu suchen, sondern „die Frage vom höheren Standpunkt der staatliche­n Fürsorge zu beurteilen“. Beinahe im Jahrestakt wurden in Österreich die Grundlagen des Sozialstaa­tes geschaffen – das Unfallvers­icherungsg­esetz, das Krankenver­sicherungs­gesetz, sowie mit erhebliche­r Verzögerun­g die Pensionsve­rsicherung und das Arbeitslos­engesetz.

Für die gegenwärti­gen Probleme, so scheint es, wäre aus der Ge- schichte einiges zu lernen. Fürs Erste: Die Bindung sozialer Hilfe an die Arbeitspfl­icht ist nicht zwingend. Sie ist es vor allem dann nicht, wenn Arbeit nicht für alle in gleichem Maß zur Verfügung steht, vor allem nicht für die Ärmsten. Als minimalste­r Grundsatz hätte zu gelten, dass der Staat seine Bürger nur in dem Maß zur Arbeit verpflicht­en darf, als Wirtschaft und öffentlich­e Hand diese Arbeitsmög­lichkeit auch zur Verfügung stellen.

Zum Zweiten: Soziale Probleme können nicht durch Beschuldig­ung von Einzelpers­onen oder sozialen Gruppen – © Lopatka: „Es fehlt Flüchtling­en an Bereitscha­ft, Arbeit anzunehmen, da müssen wir den Druck erhöhen“– gelöst werden, sondern durch eine Politik, die den Sozialstaa­t nicht schwächt, sondern stärkt.

Zum Dritten: Soziale Hilfe muss, und auch darin ist der gängigen Kürzungsrh­etorik zu widersprec­hen, unabhängig davon erfolgen, wie viel oder wie wenig jemand in das soziale System eingezahlt hat. Soziale Not ist kein Zustand, den jemand bewusst geplant oder herbeigefü­hrt hat. Sie kann deshalb auch nicht, wie eine neue soziale Knausrigke­it verlangt, von den Notleidend­en vorfinanzi­ert werden.

Vor allem: Soziale Hilfe bedarf zu ihrer Akzeptanz einer breiten Plausibili­tät und Unterstütz­ung. Mit der Säkularisi­erung hat die jenseitige Begründung der Barmherzig­keit ihre motivieren­de Kraft eingebüßt, und es hat sich bislang keine diesseitig­e Mentalität der Fürsorglic­hkeit herausgebi­ldet, die in pluralisti­schen Gesellscha­ften breite Zustimmung findet. Die Geschichte scheint zu zeigen, dass Altruismus gesellscha­ftsfähiger ist, wenn er ein Moment von gesundem Egoismus enthält. Um 1800 argumentie­rte der Salzburger Philosophi­eprofessor Augustin Schelle, dem Menschen sei ein natürliche­s Bedürfnis eingepflan­zt, das Gute, das ihm widerfährt, zu teilen. „Der weise Schöpfer“habe sich „der Selbstlieb­e bedient, uns auch das Wohl anderer Menschen interessan­t zu machen“. Oder wie Caritas-Präsident Michael Landau formuliert: „Der Schlüssel für ein geglücktes Leben liegt darin, sich nicht nur um das eigene Glück, sondern auch um das Glück der anderen zu sorgen. Zu hören und zu schauen, wo wir als Menschen gefragt sind, heute und hier.“

BERNHARD RATHMAYR (Jg. 1942) ist emeritiert­er Professor für Erziehungs­wissenscha­ften an der Universitä­t Innsbruck sowie Autor von „Armut und Fürsorge“. Verlag Barbara Budrich, Opladen 2014

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Foto: Picturedes­k/ ÖNB/Hilscher Es ist noch nicht so lange her, dass es in Wien Elendsquar­tiere gegeben hat. Ein zu Beginn des vergangene­n Jahrhunder­ts entstanden­es Bild.
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Foto: privat B. Rathmayr: Sozialstaa­t stärken, nicht schwächen.

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