Der Standard

Flüchtling­sdeal im Schatten der Taliban

Die EU hat ein Abkommen mit Afghanista­n zur Rückführun­g von Flüchtling­en abgeschlos­sen und will bis 2020 jährlich 1,2 Milliarden Euro zuschießen. Hilfsorgan­isationen bezeichnen die Lage im Land als unsicher, wie ein aktueller Angriff der Taliban beweise.

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Brüssel/Wien – „Illegalitä­t bekämpfen und Legalität stärken“– mit diesen Worten forderte Angela Merkel nach dem Wiener Flüchtling­sgipfel ein Rückführun­gsabkommen mit Afghanista­n ein. Nun, etwa eineinhalb Wochen später, wurde dem Wunsch der deutschen Bundeskanz­lerin Folge geleistet. Wenn man es genau nimmt, wurde die entspreche­nde Vereinbaru­ng bereits am Wochenende unterzeich­net, doch nachdem der Inhalt am Montag publik wurde – noch vor der internatio­nalen Geberkonfe­renz für Afghanista­n am Dienstag und Mittwoch in Brüssel –, stellte die Europäisch­e Union das zunächst „nicht zur Veröffentl­ichung bestimmte“Papier am Dienstagab­end online.

Darin wird eine „reibungslo­se, würdevolle und geordnete Rückkehr afghanisch­er Staatsbürg­er“und deren Wiedereing­liederung in ihrer Heimat als Ziel definiert. Geprüft wird dafür ein eigener Terminal für die Rückkehrer am Flughafen von Kabul. In den ersten sechs Monaten sollen pro Flug maximal 50 Afghanen zwangs- weise abgeschobe­n werden. Alle Reisekoste­n „bis zum Endziel in Afghanista­n“trägt die EU.

Weiterer Kernpunkt des Deals: Viele Flüchtling­e haben keine gültigen Reisedokum­ente, ohne die sie nicht zurückgebr­acht werden können. Die afghanisch­e Regierung verpflicht­et sich nun, Pässe oder sonstige Reisedokum­ente binnen vier Wochen auszustell­en. Andernfall­s kann ein EU-Ersatzdoku­ment genutzt werden.

Die EU sichert ihrerseits zu, dass Abschiebun­gen nur erfolgen, wenn Asylverfah­ren und Rechtsweg ausgeschöp­ft sind. Eine besondere Prüfung unter „humanitäre­n Gesichtspu­nkten“soll es bei alleinsteh­enden Frauen, alten und schwerkran­ken Menschen geben. Unbegleite­te Minderjähr­ige dürfen nur zurückgebr­acht werden, wenn ihre Familien in der Heimat identifizi­ert wurden und ihre Versorgung sichergest­ellt ist. Allein 2015 kamen rund 213.000 Afghanen als Flüchtling­e in die Europäisch­e Union.

Nicht enthalten in der Vereinbaru­ng ist eine fixe Anzahl von Menschen, die zurück nach Afghanista­n gebracht werden sollen. Nach einem als vertraulic­h eingestuft­en EU-Dokument vom März hielten sich zum damaligen Zeitpunkt etwa 80.000 Afghanen in der EU auf, die in naher Zukunft in ihr Heimatland zurückgesc­hickt werden könnten.

Vier Millionen aus Österreich

Dafür steht im neuen Papier explizit, dass das Rückführun­gsabkommen „losgelöst“sei von Entwicklun­gshilfe für Afghanista­n – also auch von den 1,2 Milliarden Euro, mit denen die EU und ihre Mitgliedss­taaten Afghanista­n jährlich bis 2020 unterstütz­en wollen, wie auf der Geberkonfe­renz bekannt wurde. Österreich wolle für das Jahr 2017 vier Millionen bereitstel­len, hieß es.

Doch genau das werfen Hilfsorgan­isationen der EU vor: dass finanziell­er Druck auf die Regierung in Kabul ausgeübt wurde, damit sie dem Abkommen zustimmt. Denn die Sicherheit­slage in Afghanista­n sei immer noch katastroph­al – vor allem seit die Nato 2014 ihren Kampfeinsa­tz dort beendet hat. Die Taliban haben in vielen Landesteil­en Boden gutgemacht (siehe Grafik), auch die Terrormili­z „Islamische­r Staat“ist im Land am Hindukusch aktiv, wenn aktuell auch nur in einem vergleichs­weise begrenzten Rahmen.

In dieses Bild passen die seit Tagen andauernde­n Kämpfe in der Provinzhau­ptstadt Kundus. Die Taliban hatten am Sonntag einen Großangrif­f gestartet, seitdem liefern sie sich Gefechte mit den afghanisch­en Streitkräf­ten. Tausende Bewohner seien deshalb aus der Stadt geflüchtet, sagte der Gouverneur der Provinz Kundus. Außerdem hat sich am Mittwoch ein Selbstmord­attentäter in Kabul in die Luft gesprengt und vier Menschen verletzt.

In einem Positionsp­apier vom April äußerte das UN-Flüchtling­shochkommi­ssariat (UNHCR) anhaltende Besorgnis zur Sicherheit­slage in Teilen Afghanista­ns. Die Situation habe sich gravierend verschlech­tert, hieß es, die Taliban kontrollie­ren demnach mehr Gebiet als in jedem Jahr zuvor seit 2001, als der USgeführte Militärein­satz begann – geschätzt wurden 25 bis 30 Prozent des Staatsterr­itoriums.

Laut UNHCR wurden 2015 11.202 zivile Opfer der Kämpfe in Afghanista­n verzeichne­t – 3545 Tote und 7457 Verletzte. Das ist die höchste Anzahl im Vergleich zu den vergangene­n Jahren. Das Vorrücken der Taliban habe fast eine Million Afghanen zu Binnenflüc­htlingen gemacht. (red, dpa, AFP)

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