Bürgerkrieg und Politik im Kino
In „Nocturama“von Bertrand Bonello verübt eine Gruppe französischer Jugendlicher eine Reihe von Anschlägen. Ein Gespräch über die Angst vor dem Terrorismus, Bürgerkrieg und Politik im Kino.
Nocturama irritiert wie vielleicht kein anderer Film dieses Jahres. Bertrand Bonello erzählt von einer Gruppe Jugendlicher, die in Paris mehrere Anschläge begeht und sich danach in einem Kaufhaus verschanzt. Was an diesem Film verwundert, ist, dass er in keiner Weise zu reagieren scheint auf die realen Gewalttaten in Paris im Jahr 2015, auf die von Islamisten verübten Morde an den Mitarbeitern des Satiremagazins Charlie Hebdo beziehungsweise auf den Anschlag auf den Rockclub Bataclan im November desselben Jahres. Nocturama scheint völlig in seiner eigenen Welt zu existieren.
Autor und Regisseur Bonello lässt das Motiv seiner Protagonisten, die mehrere Sprengstoffanschläge, einen Brandanschlag und einen Mord begehen, im Unklaren: Sind sie linke Aktivisten, angefacht von der eigenen Perspektivlosigkeit in einem Frankreich der ökonomischen Dauerkrise? Sind sie Kinder der Bourgeoisie, die den Aufstand proben? Sind sie im Gegenteil Banlieue-Kids, die nichts zu verlieren haben? Oder vielleicht doch Gotteskrieger, die sich eine Belohnung im Jenseits versprechen? Oder repräsentieren sie einen Querschnitt der gegenwärtigen Jugend?
Standard: Was hat Sie motiviert, diesen Film zu machen? Bonello: Die Geschichte von Nocturama geht bis ins Jahr 2010 zurück. Ich bereitete meinen Film L’Apollonide vor, der im frühen 20. Jahrhundert spielt. Plötzlich bekam ich Angst, mich zu sehr von der Gegenwart zu entfernen. Ich nahm mir also vor, mich danach wieder dem Hier und Jetzt zu widmen. Damals wie heute emp- finde ich die Gegenwart als geprägt von einer großen Spannung, als ob gleich etwas explodieren würde. Das wollte ich in einen Film übersetzen, der eher wie ein Actionfilm funktioniert.
Standard: Können Sie diese Spannung genauer beschreiben? Bonello: Sie ist zugleich sehr konkret und abstrakt. Man kann sie fühlen, wenn man in die Metro geht, auf die Straße, in eine Bar oder wenn man die Zeitung aufschlägt. Eine Schwere, die ich in Paris, wo ich wohne, spüren kann. Wahrscheinlich ist es in London oder Berlin ähnlich. Eine Spannung, die man fast berühren kann.
Standard: Eine Aggressivität? Bonello: Ja, aber eine, die im Zaum gehalten wird. Das war mein Gefühl, als ich sehr schnell die erste Drehbuchfassung geschrieben habe. Dann bekam ich das Angebot, einen Film über Yves SaintLaurent zu drehen. Ende 2014 habe ich dann das Script wieder herausgeholt.
Standard: 2015 gab es dann mehrere schwere Anschläge in Paris. Ihr Film scheint damit aber auf den ersten Blick nichts zu tun zu haben. Das verwirrt. Bonello: Ich weiß. Wenn man heute das Wort Terrorismus in den Mund nimmt, geht es immer um islamischen Fundamentalismus, mir geht es aber um die Idee einer Revolte. Solche Revolten gibt es, seit es Nationalstaaten gibt. Standard: Ist „Nocturama“nicht eher einen Film über Jugend als über Terrorismus? Bonello: Ich wollte mit sehr jungen Darstellern arbeiten. Selbst wenn meine Protagonisten nur ein paar Jahre älter wären, also Mitte zwanzig, würde der Film etwas ganz anderes beschreiben. So haben sie noch etwas Naives und Unschuldiges. Als Nocturama in Frankreich in die Kinos kam, haben die jungen Leute ihn wirklich verstanden und nicht in Verbindung gebracht mit dem, was wir 2015 durchleiden mussten, auch wenn das Teil von der eben beschriebenen „Spannung“ist.
Standard: Haben Sie nach den Anschlägen im letzten Jahr etwas an dem Film geändert? Bonello: Gedreht haben wir im Sommer, also nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo. Nach den Anschlägen im November auf das Bataclan hatte ich die erste Schnittversion fertig. Natürlich gab es viele Diskussionen mit den Produzenten und den Geldgebern. Aber wir waren uns einig, dass der Film von etwas anderem handelt. Der Film ist Fiktion und spielt in seiner eigenen Welt. Das Einzige, was wir geändert haben, ist der Titel. Eigentlich sollte er Paris est une fête lauten, das ist der französische Titel von Hemingways A Moveable Feast (Paris – Ein Fest fürs Leben). Nach den Anschlägen vom 13. November wurde das Buch jedoch in Paris zu einer Art Symbol: Jeder kaufte es, verschenkte es an Freunde oder Fremde. Der Titel wäre als Anspielung auf die Terrorattacken gedeutet worden, das wollte ich vermeiden.
Standard: Der Titel „Nocturama“erinnert an den Roman „Glamorama“von Bret Easton Ellis aus dem Jahr 1998, auch inhaltlich gibt es Ähnlichkeiten. Spielte das eine Rolle bei der Wahl des neuen Titels? Bonello: Vor 15 Jahren wollte ich tatsächlich einen Film drehen, der Ellis’ Buch mit Pier Paolo Pasolinis Roman Petrolio verbindet. Aber das Projekt war zu teuer. Der Titel kommt eigentlich von einer Platte von Nick Cave mit demselben Namen. Das Album ist gar nicht mal besonders gut, aber ich mochte den Titel, er betont auch mehr das fiktionale Element.
Standard: Formal erinnert der erste Teil an Alan Clarkes „Elephant“über den Nordirland-Konflikt aus dem Jahr 1989, der allerdings noch radikaler ist: Dort sieht man vierzig Minuten lang nur, wie immer wieder unterschiedliche Menschen wortlos durch Belfast laufen und am Ende jemand erschießen. War das eine Inspiration? Bonello: Ja. Es gibt bei Clarke keinerlei Kontext oder Erklärung, aber am Ende hat man verstanden, was Bürgerkrieg ist: Jemand geht über eine Straße und erschießt jemand anderen. Es ist großartig, wenn ein Regisseur es schafft, dir etwas wirklich Wichtiges zu vermitteln, ohne dich mit der Nase darauf zu stoßen.
Standard: Der Diskurs über Terrorismus wird bestimmt durch die Nachrichten. Was kann das Kino zu diesem Diskurs beitragen? Bonello: Ein Filmemacher ist kein Journalist, kein Politiker, kein Soziologe. Aber man kann versuchen, einen Film darüber zu machen, was man sieht und fühlt. Dabei ist deine Aufgabe immer, den bestmöglichen Film zu drehen und nicht zu versuchen, Probleme zu lösen. Es geht nicht darum, zu sagen: Das ist gut, und das ist schlecht, und ich schlage mich auf die Seite der Guten. Ein politischer Film versucht nach meinem Verständnis einfach nur mithilfe einer Fiktion zu zeigen, was ist.
BERTRAND BONELLO (48) drehte 2001 seinen ersten Langfilm „Der Pornograph“und zählt mit Arbeiten wie „Tiresia“(2003) und „L’Apollonide“(2011) zu den bedeutendsten Filmemachern Frankreichs. 25. 10., Stadtkino, 23.30 26. 10., Gartenbaukino, 20.30