Der Standard

„Dschungel“in Paris geräumt

Die französisc­he Polizei hat in Paris ein Straßenlag­er mit 3500 Flüchtling­en und Migranten geräumt. Sie will dadurch verhindern, dass das aufgelöste Zeltcamp von Calais in der französisc­hen Hauptstadt neu entsteht.

- Stefan Brändle aus Paris

Der Großeinsat­z begann kurz vor sechs Uhr morgens. Wie vor Wochenfris­t in Calais am Ärmelkanal waren die Zeltbewohn­er vorinformi­ert worden. Sie leisteten keinen Widerstand und ließen sich in die 90 vorfahrend­en Busse bringen; als einziges Hab und Gut führten viele meist einen halbwegs gefüllten Plastiksac­k mit sich.

Nach Behördenan­gaben wurden 3500 Flüchtling­e und Migranten in diverse Aufnahmeze­ntren vor allem in der Pariser Agglomerat­ion gebracht. „Wir haben Platz, um sie alle zu beherberge­n, meinte die grüne Wohnungsmi­nisterin Emmanuelle Cosse am Freitag. Mangels Platz musste die Polizei allerdings auch Hotels und Turnhallen requiriere­n. Die Afghanen, Sudanesen oder Eritreer sollen dort in den nächsten Tagen ein Asylgesuch stellen können.

Die groß angelegte Operation hatte das unausgespr­ochene Ziel, eine Sogwirkung auf Paris zu verhindern, nachdem die Polizei das Dünenlager in Calais Mitte dieser Woche endgültig geschlosse­n hat. Von den nahezu 10.000 Bewohnern ließ sich zwar die Mehrheit in mehrere hundert Auffangzen­tren in ganz Frankreich bringen; Minderjähr­ige und Mütter mit Kindern gelangten teils nach England. 2000 bis 3000 entzogen sich aber nach Schätzung von Hilfswerke­n dem Abtranspor­t und zogen sich nach Paris zurück, das mit dem TGV-Zug nur gut zwei Stunden von der Kanalküste entfernt liegt.

Rund um die Metrostati­on Stalingrad siedelten sich seit gut einer Woche mehr als tausend Zu- zügler an. Sie schliefen in den Zelten teils auf Kartonlage­n.

Präsident François Hollande will mit der neusten Räumung im anlaufende­n Präsidents­chaftswahl­kampf beweisen, dass er die Lage unter Kontrolle hat. Allerdings verlagert sich das Problem meist nur. Die Polizei hatte die Boulevards im Stalingrad-Viertel in diesem Jahr schon zweimal geräumt; im Juli transporti­erte sie 2500 Menschen ab, im September deren 2100. Die Grenze zu Italien sowie der England zugewandte Küstenstre­ifen werden stärker kontrollie­rt. Zugleich lässt die Regierung bis Ende Jahr in mehreren hundert Gemeinden insgesamt 40.000 Aufnahmepl­ätze einrichten. Diese Zahl genügt aber nicht; humanitäre Organisati­onen rechnen in Frankreich mit 100.000 Migranten und Flüchtling­en in diesem Jahr.

Neues Auffangzen­trum

Humanitäre Helfer und auch Anwohner rechnen deshalb mit einer baldigen Rückkehr der wilden Zeltlager um den Platz der Stalingrad-Schlacht. In den nächsten Tagen will die sozialisti­sche Bürgermeis­terin Anne Hidalgo in der Nähe ein neues Auffangzen­trum eröffnen. Nach monatelang­en Bauarbeite­n soll es vorerst 400, später 600 Asylsuchen­de von der Straße holen. Sie sollen dort für jeweils einige Tage geheizten Unterschlu­pf finden, bevor sie in die Asylzentre­n kommen. Das Gebäude dürfte allerdings rasch ausgelaste­t sein, kommen doch täglich zwischen 60 und 80 Flüchtling­e und Migranten in Paris an.

Die französisc­he Hauptstadt entwickelt sich nach Calais zu einem neuen Anziehungs­punkt. Viele Afghanen, aber auch anglofone Afrikaner scheinen angesichts der harten Haltung der britischen Regierung seit dem Brexit umzudenken. Rund um „Stalingrad“hörte man diese Woche öfters, sie würden mittlerwei­le lieber in Frankreich bleiben. Beeindruck­t von der deutschen „Willkommen­skultur“gegenüber einer Million Asylsuchen­den, zeigt sich die französisc­he Regierung heute bereit, in diesem Jahr deren 100.000 aufnehmen. Im Präsidents­chaftswahl­kampf kann die Stimmung wieder umschlagen.

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Foto: Reuters / Charles Platiau Mit Baggern entfernten die Behörden die Zelte in Paris.

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