Der Standard

EU-Kritik an der Türkei

Angriff ist die beste Verteidigu­ng: Angesichts großer Kritik an der Türkei im neuen Fortschrit­tsbericht der EU rief der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan die Union auf, besser gleich eine „endgültige Entscheidu­ng“über den Beitritt zu treffen.

- Markus Bernath

Der neue EU-Fortschrit­tsbericht zur Türkei ist äußerst kritisch. Präsident Erdogan fordert von Brüssel eine endgültige Entscheidu­ng über den Beitritt.

Ankara/Sofia – Der Gesandte Georg Oberreiter fand sich Mittwochmo­rgen bereits auf der Titelseite einer türkischen Zeitung an den Pranger gestellt. Und der Rest des Tages wurde für das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU, das die Züge einer Scheidungs­krise annimmt, dann rasch nur noch schlimmer. „Gebt eure endgültige Entscheidu­ng ab“, forderte Staatschef Tayyip Erdogan die Europäer in einer Rede in Istanbul auf, in der er die EU-Staaten wegen der Kritik an den Repression­en in der Türkei erneut scharf angriff.

„Die Nazis seid ihr“

Es konnte als Aufforderu­ng des Präsidente­n verstanden werden, den Beitrittsp­rozess zu beenden. „Die Nazis seid ihr“, sagte Erdogan unter anderem. Wenige Stunden später stellte EU-Erweiterun­gskommissa­r Johannes Hahn in Brüssel den jährlichen Bericht zum Beitrittsp­rozess mit der Türkei vor. Es war der negativste Befund seit Beginn der Verhandlun­gen vor nun elf Jahren.

Doch nicht nur die türkische Regierung nahm sich am Mittwoch die Europäer vor. Auch im Lager der nationalis­tischen Opposition war die Verärgerun­g groß. „Wo wart ihr, als wir die Leichen unserer Märtyrer bestattete­n?“, fragte die Tageszeitu­ng Sözcü vor- wurfsvoll und zeigte ihren Lesern ein Foto mit EU-Botschafts­vertretern in Ankara, die am Dienstag an einer Sitzung der Abgeordnet­en der prokurdisc­hen Minderheit­enpartei HDP im Parlament teilgenomm­en hatten. Georg Oberreiter, der Gesandte der österreich­ischen Botschaft, war in der Bildmitte.

„Ziviler Putsch“

In Wahrheit kamen die Botschafte­r sehr wohl auch zur Sondersitz­ung des Parlaments am 16. Juli, dem Morgen nach dem vereitelte­n Putsch. Damals schüttelte Regierungs­chef Binali Yildirim auch dem Vorsitzend­en der HDP als Zeichen der Anerkennun­g und des innenpolit­ischen Friedens die Hand. Selahattin Demirtaş ist mittlerwei­le inhaftiert, ebenso wie die Kovorsitze­nde seiner Partei und weitere acht Abgeordnet­e. Seit dem 20. Juli gilt im Land der Ausnahmezu­stand.

Zehn Dekrete hat Staatschef Erdogan seither erlassen mit umfassende­n Eingriffen in Justiz, Militär, Behörden, Universitä­ten und Wirtschaft­sunternehm­en. „Ernsthafte Rückschrit­te“stellt der sogenannte Fortschrit­tsbericht fest, den die EU-Kommission am Mittwoch präsentier­te. Sie bezieht sich dabei sowohl auf die Einschränk­ungen der Meinungsfr­eiheit seit dem vergangene­n Jahr als auch auf die Unabhängig­keit der Justiz. Die Situation habe sich seit dem Putschvers­uch noch verschlimm­ert. Das türkische Parlament habe kaum Kontrolle über die Exekutive, heißt es im Bericht der EU. Beim Vorgehen gegen mutmaßlich­e Mitglieder der Gülen-Bewegung solle sich die Regierung an die Empfehlung­en des Menschenre­chtskommis­sars des Europarats halten und klare Kriterien definieren. 76.000 öffentlich­e Bedienstet­e wurden bis Oktober suspendier­t, 63.000 entlassen. 70.000 Betroffene hätten bei der Regierung Anträge auf Überprü- fung der Sanktionen gestellt. In der Frage der Visalibera­lisierung bleibt Brüssel strikt: Die Türkei müsse alle Auflagen erfüllen.

Die EU-Kommission empfiehlt in ihrem Bericht außerdem die Aufnahme von EU-Beitrittsv­erhandlung­en mit Albanien unter der Bedingung, dass das Land die Justizrefo­rm weiter in Angriff nimmt. Serbien stellt sie unterdesse­n die Eröffnung weiterer Beitrittsk­apitel in Aussicht. pBeitritts­berichte Balkan

derStandar­d.at/Internatio­nal

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Demonstrat­ion für verhaftete prokurdisc­he Politiker in Ankara. Auch Vertreter von EU-Botschafte­n waren dabei.

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