Sex mit Hilfsmitteln
Der kanadische Posterboy Justin Bieber gastierte in der Wiener Stadthalle. Mit vielen ähnlich klingenden Liedern sorgte er im Publikum nicht nur für Produktbindung, sondern auch für ein Kreischen am Rande des Hörsturzes.
Wien – Das Wiener Jugendschutzgesetz sorgt dafür, dass viele Haushalte während des letzten Jahres laufende Bausparverträge auflösen mussten. Eintrittskarten kosten Geld. Justin Bieber kündigte im Herbst 2015 ein ÖsterreichGastspiel an. Und Kindern unter 14 Jahren ist es verboten, sich nach 22 Uhr ohne erwachsene Begleitpersonen auf Konzerten aufzuhalten. Dasselbe gilt übrigens auch für Wirtshäuser, die Pratersauna und die Grelle Forelle. Nur damit da keine Missverständnisse aufkommen. Schaut nicht so überrascht, ihr wisst ganz genau, dass ich euch meine, Maurice-André und Lorelie. Ihr Gfraster!
Diese bei Missachtung mit bis zu 7200 Euro Strafe für Aufsichtspflichtige bedachte Regelung führt in der Wiener Stadthalle wieder einmal dazu, dass weiter hinten in der Halle der Altersdurchschnitt stark steigt – von 60 Euro für die billigsten Karten aufwärts. Allerdings sinkt die Stimmung. Erwachsene Begleitpersonen können ganz schön grimmig schauen. Vor allem, wenn sie im Saal Plakate sehen, die ankündigen, dass 24 Stunden später an selber Stelle statt dieses Haare- schön-Hampelmanns aus Kanada der leibhaftige und – bei Karel Gott! – rüstige und gemescht-blonde Sir Roderick Stewart die kecke Frage stellen wird, ob man ihn denn sexy finde. Ja, mei, früher, das war halt noch eine richtig fetzige Musik!
Vorn ist jetzt bei von tausenden glockenhellen Teeniestimmen erzeugter Tinnitus-Begeisterung sowie nach einer ungefähr genau bis hinunter kurz vor den Wiener Gürtel führenden, also für junge Menschen gefährlich nach Wandertag riechenden Menschen- schlange vor dem Eingang Justin Bieber aus dem Bühnenboden auf einer Plattform hochgefahren. Er tanzt mit seinen zwei Handvoll besten Freunden und Freundinnen einen total crazy Dance auf den diversen Bühnenrampen und Podien.
Heteronormatives Tanzen
Tanzen ist in den heutigen Zeiten total cool. Auch bei Boys. Das ist bemerkenswert, weil die Sache selbst unter der Regentschaft Michael Jacksons in den 1980erJahren definitiv nur bei Girls durchging – oder auch bei Jungs. Die mussten sich dann allerdings zur Entschuldigung bei ihren Kumpels schon akut auf der Tanzfläche heteronormativ um eine feste Freundin bemühen. Michael Jackson ist mittlerweile so tot wie Prince. Der hat sich damals interessanterweise die Lieder noch selbst geschrieben.
Deshalb flugs zurück zu den aufgelösten Bausparverträgen und Justin Bieber. Schon erstaunlich, wie sich dieses einstige Schnulzenputzi einer Eislaufmutter während der letzten Jahre vom bad tätowierten Boy und Oberrandalierer in innerstädtischen Vorstadtdiscos spätestens 2015 mit seinem aktuellen Album namens Dings zum souveränen family-friendly juvenile Entertainer mickymauserte. Die Hits, die auf der seit dem Frühjahr laufenden Welttour täglich gleich, also auch in der Wiener Stadthalle, geboten werden, kann man leicht erkennen. Sie klingen alle ähnlich. Wichtig ist nur, dass es zwei unterschiedliche Baupläne gibt.
Es gibt das schnelle, die Magengrube mit tiefergelegten Stolperbeat-R-’n’-B-Bässen behübschende Party-party-, Let’s-have-a-realgood-good-time-Lied (kreisch, kreisch!). Neuerdings rummst das wie die Electronic Body Music von coolen Typen wie Skrillex, Deadmau5 oder Deichkind. Oder so. Okay, bei Deichkind werden Drogen genommen, aber sonst ist das schon auch eines: voll derb, hippidihoppe – und „nais“.
Okie dokie, das schnelle Lied hätten wir. Es gibt als zweites aber auch noch das langsame Lied (kreisch, kreisch, kreisch!!!). Zu dem schwenkte man früher Feuerzeuge im Saal. Während es sich auf einem Sofa in der Saalmitte unser Held mit Wandergitarre bequem macht, schaltet man heute die Taschenlampe des Handys ein oder verwendet die Justin-BieberApp mit Blink-blink-Funktion. Falls es sie sehr wahrscheinlich gibt. Aber was wissen wir schon? Wir sind noch mit Vierteltelefon und den Bay City Rollers und immer wieder Sängern aufgewachsen, die Brusthaare hatten und trotzdem reich und berühmt wurden, obwohl sie erst ganz kurz zuvor vom Baum heruntergestiegen waren.
Während Justin Biebers Show setzt es nicht nur alte TeeniepopHits wie Baby oder neue Kennmelodien wie I’m Sorry und die Mitsingorgien Love Yourself und Cold Water. Der 22-jährige Veteran des Synchrontanzpop hat nach einem halben Jahr auch seine Choreos gut 90 Minuten lang voll im Griff.
Lip-Sync und Selfies
Justin Bieber erinnert sich zwischen hoch- und niederfahrenden hydraulischen Hebebühnen, Trockeneis, auf einem Trampolin über dem Saal schwebend, zwische Trapezen und sich darauf rekelnden Showgirls, dem üblichen Konfettikram und akrobatischen Einlagen sowie Des-Weltraumsunendliche-Weiten-Filmchen sogar an eine total wichtige Sache: Wenn der piepsige und eher antiemotional gehaltene AutotuneEffekt-und ganz und gar nicht im Affekt gehaltene Gesang zu hören ist (Sex mit Hilfsmitteln!), muss er teilweise das Mikrofon zum Mund halten.
Schaut super aus. Jemand singt ja. Man nennt das in der Fachwelt Lip-Sync. Geht voll okay. Wir wollen Justin Bieber hauptsächlich leibhaftig sehen und dazu Selfies machen. Das Tandaradei kennt man längst von Youtube. Irgendwo weiter hinten spielt sehr souverän eine nicht näher erkannt werden sollende Liveband.
Nicht lange nach Beginn seiner Show singt Justin Bieber im arrangementmäßig etwas monochrom gehaltenen Song Boyfriend die Zeilen: „If I was your boyfriend, I’d never let you go. I can take you to places you ain’t never been before.“Nein, Justin, das kannst du nicht.