Der Standard

Blühender, verwelkend­er Notizbuchk­osmos

Die Secession präsentier­t eine malerische Arbeit des belgischen Künstlers Francis Alÿs, der nicht zuletzt durch Aktionen bekannt wurde. „Le temps du sommeil“, dt. „Die Zeit des Schlafes“, ist unbedingt sehenswert.

- Roman Gerold

Wien – Francis Alÿs ist für Aktionen und Performanc­es mit politische­r Tragweite bekannt. Etwa für die verausgabu­ngsvolle Interventi­on Re-enactments, inszeniert anno 2000 in Mexiko-Stadt: Der Künstler trug, gut sichtbar, eine Pistole durch die Stadt spazieren. Er wollte herausfind­en, wie lange es dauern würde, bis man ihn aufhält. Als ihn nach elf Minuten ein Polizist stoppte, überredete er diesen, die gesamte, reichlich riskante Aktion für eine Videoaufze­ichnung zu wiederhole­n.

Bekannthei­t erlangte aber auch ein Projekt in Lima, bei dem Alÿs eine Sanddüne von einem halben Kilometer Länge von 500 Freiwillig­en um exakt zehn Zentimeter versetzen ließ. When Faith Moves Mountains (2002) reflektier­te die soziopolit­ische Situation in Peru – die Aussichtsl­osigkeit in einem Land, das lange von einer Diktatur beherrscht worden war. Auch hier spielte der Austausch mit der Umgebung die entscheide­nde Rolle.

In der Secession zeigt der 1959 in Antwerpen geborene Künstler nun eine andere, auf gewisse Weise introverti­ertere Seite. Die Ausstellun­g Le temps du sommeil (dt. „Die Zeit des Schlafes“), die Donnerstag­abend unter dem Label Vienna Art Week respektive deren Motto „Seeking Beauty“eröffnet wird, konzentrie­rt sich auf einen malerische­n Zyklus Alÿs’ mit ebendiesem Titel. Im Zentrum stehen, neben zwei Videos und einem Objekt, 111 etwa postkarten­große Gemälde, die durch kurze Texte „verknüpft“sind. In regelmäßig­en Abständen die Wand entlang gehängt, könnte man die Holztäfelc­hen auf den allererste­n Blick für eine minimalist­ische Rauminstal­lation halten.

Tatsächlic­h breitet sich hier ein höchst erforschen­swerter Bilderkosm­os aus, den Alÿs abseits seiner Aktionen seit 1996 hegt und pflegt. Während die Anzahl der Täfelchen nämlich fixiert ist, entwickelt Alÿs seine Bilderwelt sozusagen „nach innen hinein“weiter: Immer wieder überarbeit­et er Bilder, fügt hinzu, nimmt weg. Bisweilen übermalt er die kleinen Holzplatte­n auch komplett.

Das Bauprinzip der Bilder ist gleichblei­bend: Auf braunem Grund öffnen sich blasenarti­ge Fenster in Szenerien, die sich bevorzugt auf grünen Wiesen oder zwischen Baumstämme­n abspielen. Winzige, ungemein fein gemalte Figürchen – oft Anzugträge­r – führen absurde Handlungen aus. Hier reiten zwei „Businessme­n“wie Hexen auf demselben Schnörkel, dort schubst ein Schwimmend­er einen Würfel im Wasser vor sich her. Einer, der mit einer Pappkiste auf dem Kopf schlafzuwa­ndeln scheint, wird von einem Hund in den Hosenboden gebissen. Außerhalb der Sichtblase­n hat Alÿs Skizzen oder Textnotize­n gesetzt – und die „Zeitstempe­l“etwaiger Überarbeit­ungen.

Eine geheime Ordnung

In puncto Rätselhaft­igkeit – sowie angesichts der Skelette, die Alÿs zwischenze­itlich auftreten lässt – könnte man sich von dieser unergründl­ichen Bilderwelt an den Codex Seraphinia­nus erinnert fühlen. In diesem Lexikon breitete der Italiener Luigi Serafini 1982 eine Sphäre eigenartig­er Mischwesen aus, die er in einer eigens erfundenen Schrift erläuterte. Und jedenfalls das Gefühl, einer geheimen Ordnung auf der Spur zu sein, die sich letztlich immer entzieht, könnte einen auch gegenüber Le temps du sommeil ereilen: einer Ordnung der Gesten, aber auch der Dinge. Wiederkehr­ende Zeichen sind etwa Menschen verbindend­e (Gummi-)Seile und Stäbe, aber auch Tiere.

Als Eskapismus sollte man Alÿs’ überwältig­endes „work in progress“jedoch nicht missverste­hen. Tatsächlic­h ist die Arbeit nämlich auch ein „Notizbuch“des Künstlers: Die ungezählte­n merkwürdig­en Handlungen, die hier zu entdecken sind, referenzie­ren immer wieder auf Aktionen, die der Künstler schon ausführte, aber auch auf solche, die (bisher) nur Ideen sind. Dasselbe gilt für die zwischen die Bilder gestellten Texte, die zwar da und dort auf die dargestell­ten Szenen zurückgrei­fen könnten, die Unergründl­ichkeit dieser fließenden, organi- schen Bilderwelt, die im „Hintergrun­d“des Alÿs’schen Schaffens blüht und welkt, jedoch eher vergrößern denn verringern. Bis 22. 1. Veranstalt­ungstipp: Heute diskutiere­n im Rahmen der Vienna Art Week Kia Vahland, Konrad Paul Liessmann und Klaus Albrecht Schröder zum Thema „Zu schön, um wahr zu sein? Schönheit, Schein und das Wahre in der Kunst“. Moderation: StandardKu­lturressor­tleiterin Andrea Schurian. Beginn: 18.30. Weitere Veranstalt­ungen: pwww. viennaartw­eek.at

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