Der Standard

Europas tiefe Krise

Kwaśniewsk­i, Prodi, Fischler: EU droht „Desintegra­tion“

- Gianluca Wallisch

Die früheren EU-Granden Kwaśniewsk­i, Prodi und Fischler warnten bei einem Treffen in Wien vor „Desintegra­tion“in Europa.

Wien – Als „Elder Statesman“muss man nicht mehr so viel Rücksicht auf andere nehmen und kann mitunter frei von der Leber weg sprechen – wie etwa Aleksander Kwaśniewsk­i: Der ehemalige polnische Staatspräs­ident (1995–2005) sieht einen großen Teil der Probleme in der EU in dürftiger politische­r Leadership begründet. Mangelnder Mut und die völlige Fehleinsch­ätzung der sozialen Folgen der Wirtschaft­skrise seien dafür verantwort­lich, dass die Demokratie in einer tiefen Krise stecke – und zwar in ganz Europa, sagte Kwaśniewsk­i bei einem gemeinsame­n Journalist­engespräch mit Ex-EU-Kommission­spräsident Romani Prodi (1999–2004) und Ex-EU-Kommissar Franz Fischler (1995– 2004) am Dienstag in Wien. Unter diesen Vorzeichen hätten Populisten und Nationalis­ten ein leichtes Spiel, so Kwaśniewsk­i.

Zwar sei Österreich in dieser Hinsicht bisher kein Vorreiter gewesen, doch nach dem Referendum der Briten über den Austritt aus der EU (Brexit) und dem Erstarken nationalis­tischer Politiker in Ungarn und Polen wäre der Sieg eines „populistis­chen Kandidaten“bei der Bundespräs­identenwah­l am 4. Dezember – den Namen von Norbert Hofer (FPÖ) nannte Kwaśniewsk­i nicht – eine „sehr schlechte Nachricht“.

Sollten demnächst bei der Präsidents­chaftswahl in Frankreich der Front National oder später bei der deutschen Bundestags­wahl die Alternativ­e für Deutschlan­d Erfolg haben, könnte „eine Lawine“ausgelöst werden. Nicht zuletzt, um davor zu warnen, waren Kwaśniewsk­i und Prodi Montagaben­d bei einer Veranstalt­ung zur Unterstütz­ung von Bundespräs­identschaf­tskandidat Alexander Van der Bellen in Wien aufgetrete­n.

EU in schlechtem Zustand

Nach Prodis Einschätzu­ng wird sich am schlechten Zustand der EU-Politik auch nicht so schnell etwas ändern: Die Brexit-Verhandlun­gen ab nächstem Frühjahr sowie die Wahlen in Frankreich und in Deutschlan­d würden dafür sorgen, dass die EU wohl noch ein paar Jahre nicht ordentlich vom Fleck kommt. „Wir befinden uns europaweit im Dauerwahlk­ampf, statt verantwort­ungsvoll Politik zu machen“, kritisiert­e der ehemalige EU-Kommission­spräsident.

Franz Fischler warnte vor der Gefahr einer „Desintegra­tion, die Europa um Jahrzehnte zurückwerf­en“könnte. Nach einer langen Zeit des Zusammenwa­chsens müsse man nun vielerorts feststelle­n, dass „jene Kräfte stärker werden, die die Prinzipien von Kohäsion und Solidaritä­t ablehnen“, analysiert­e der ehemalige EU-Kommissar. Doch Zusammenha­lt sei wichtiger denn je: „Wenn wir nicht imstande sind, außenpolit­isch und sicherheit­spolitisch mehr Gemeinsame­s zu schaffen, dann werden wir das Ziel eines gemeinsame­n stärkeren Europa nicht erreichen können.“

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