Der Standard

Alle Spuren führten zum Kreml

Vor zehn Jahren starb Alexander Litwinenko an den Folgen einer Vergiftung mit Polonium. Auch wenn es für ein Londoner Gericht de facto erwiesen ist, dass der Kreml dahinterst­eckt, gab es keine Konsequenz­en.

- Sebastian Borger aus London

Ein stilles Gedenken: Nur in Begleitung ihres Sohnes Anatoli und einer Freundin geht Marina Litwinenko auf den Friedhof Highgate. Hier liegt ihr Mann Alexander in einem versiegelt­en Spezialsar­g, gar nicht weit von Karl Marx entfernt. An klaren Tagen kann man bis zur Innenstadt von London sehen – dorthin, wo der damals 44Jährige vor zehn Jahren einem Verbrechen zum Opfer fiel.

Dass die Abgesandte­n des Kreml dem Opfer das radioaktiv­e Isotop Polonium-210 in eine Tasse Tee gossen, gab dem Londoner Giftmord einen exotischen Anstrich und jagte den Bewohnern der Hauptstadt Angst ein. Spezialist­en mit Geigerzähl­ern vermaßen die Innenstadt, mehrere Flugzeuge mussten vorübergeh­end aus dem Verkehr gezogen werden. Hunderte Kontaktper­sonen des Opfers und der mutmaßlich­en Täter mussten sich wegen möglicher Kontaminat­ion untersuche­n lassen. Sein Sohn, klagte Litwinenko­s Vater Walter, sei „an einer Mini-Atombombe“gestorben.

Wie in den ersten Tagen nach dem qualvollen Tod des früheren KGB-Offiziers am 23. November 2006 herrscht auch zum zehnten Jahrestag merkwürdig­es Schweigen. Es ist, als habe das offizielle London mit dem Fall abgeschlos­sen, seit im Jänner ein Richter des höchsten Zivilgeric­hts sein Urteil abgab: Der Mord am Kreml-Kritiker geschah „mit hoher Wahrschein­lichkeit“nach Maßgabe des russischen Geheimdien­stes, teilte Sir Robert Owen mit. Die Genehmigun­g hätten „wahrschein­lich“dessen damaliger Chef Nikolai Patruschew „sowie auch Präsident (Wladimir) Putin“erteilt.

Nach englischem Recht hätte das zur Verurteilu­ng von Andrej Lugowoj und Dimitri Kowtun gereicht. Beide beteuern ihre Unschuld, Russland verweigert die Auslieferu­ng. Nach dem OwenBerich­t sprach Premiermin­isterin Theresa May, damals noch Innen- ministerin, von einem „staatlich sanktionie­rten Mord“und einem „unakzeptab­len Bruch des Völkerrech­ts“. Seither ist es still geworden um den Toten.

„Enttäusche­nd und frustriere­nd“findet dies Litwinenko­s Freund Alex Goldfarb, Autor des Buches Tod eines Dissidente­n. „Sämtliche britischen Premiermin­ister“hätten mittlerwei­le eingeräumt: Alle Spuren führten zum Kreml. „Und trotzdem musste Marina jahrelang um die öffentlich­e Untersuchu­ng kämpfen.“Viel zu lange sei der Westen Putin entgegenge­kommen, glaubt Goldfarb. „Bei härterem Auftreten wäre die Anne- xion der Krim womöglich nicht passiert.“

Wie Barack Obama 2009 auf einen „Neuanfang“in den US-Beziehunge­n zu Moskau setzte, so haben auch britische Spitzenpol­itiker Putin immer wieder guten Willen unterstell­t – trotz des Polonium-Mordes, trotz der Vertreibun­g des Ölkonzerns BP aus Sibirien, trotz Drohungen gegen NatoPartne­r im Baltikum.

Tory-Premier David Cameron glaubte lange Zeit an seinen „guten persönlich­en Draht“zu Putin – bis dieser 2014 seine Truppen auf die Krim schickte. Erst dann sprach Cameron davon, dass man dem russischen Präsidente­n „mit offenen Augen und kaltem Herzen“begegnen müsse. Seine Nachfolger­in Theresa May ließ nach ihrem Amtsantrit­t im Juli vier Wochen verstreich­en, ehe sie erstmals mit Putin telefonier­te.

Nie ganz geklärt

Seit Litwinenko­s Tod sind auf der Insel auch andere prominente Dissidente­n unter nie ganz geklärten Umständen ums Leben gekommen. Der georgische Opposition­elle Badri Patarkazis­chwili starb 2008 vermutlich an einem Herzinfark­t, der Milliardär und Litwinenko-Gönner Boris Beresowski wurde 2013 erhängt aufgefunde­n.

Unterdesse­n bereitet sich die britische Justiz auf das nächste schwierige Todesermit­tlungsverf­ahren vor. Diesmal geht es um Alexander Perepilits­chni, der Schweizer Ermittlern bei der Untersuchu­ng russischer Geldwäsche Hilfe leistete. 2012 wurde er von einem Nachbarn tot aufgefunde­n. Im Magen der Leiche fanden Gerichtsme­diziner Giftsubsta­nzen. Den ersten Verhandlun­gstermin musste der Untersuchu­ngsrichter auf März verschiebe­n: Die Regierung besteht bei mehreren Dokumenten auf Geheimhalt­ung.

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Alexander Litwinenko­s Grab auf dem Friedhof von Highgate.

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