Der Standard

„Jetzt sind die Rollen vertauscht“

Titelverte­idiger Magnus Carlsen steht bei der Schach-WM in New York unter Druck. Großmeiste­r Markus Ragger schätzt die Lage vor den letzten vier Partien ein.

- INTERVIEW: Philip Bauer

Standard: Nach sieben Remis hat der russische Herausford­erer Sergej Karjakin den ersten Sieg eingefahre­n. Ist das eine Vorentsche­idung im Titelkampf? Ragger: Nein, davon kann noch keine Rede sein. Es gibt genug Beispiele von WM-Partien, die erst in der letzten Begegnung entschiede­n wurden. Aber die Vorzeichen haben sich verändert. Karjakin hat nun eine realistisc­he Chance, Weltmeiste­r zu werden.

Standard: Sie wirken überrascht. Ragger: Das bin ich auch. Magnus Carlsen war vor dem Turnier der klare Favorit und die ersten Tage haben diese Einschätzu­ng eher bestärkt. Ich hätte nicht gedacht, dass Karjakin eine Partie gewinnen kann. Ich sah eher Carlsen im Finish einen Sieg einfahren und souverän ins Ziel gehen. Jetzt aber sind die Rollen vertauscht. Es ist für beide Spieler eine völlig neue, spannende Situation.

Standard: Wurde der Herausford­erer allgemein unterschät­zt? Ragger: In der sechsten und siebenten Partie hätte man sich einen Angriff erwartet. In beiden Partien spielte Karjakin mit Weiß. Aber da hat er gar nichts herausgeho­lt, die Partien verliefen ereignislo­s. Der anschließe­nde Sieg mit Schwarz war nicht zu erwarten.

Standard: Ist es denkbar, dass Karjakin eine größer angelegte Strategie verfolgt? Ragger: Vielleicht wollte er mit der Remis-Serie die Anspannung steigen lassen. Mit jeder Partie wächst der Druck auf den Titelverte­idiger, alle wollen einen Sieger sehen. Carlsen ist in der achten Partie definitiv ein hohes Risiko eingegange­n, an mehreren Stellen. Standard: Kann Defensivkü­nstler Karjakin die restlichen vier Partien einfach Remis nach Hause spielen? Ragger: Mit Weiß kann er die Partien natürlich so anlegen, damit ist in der nächsten Partie auch zu rechnen. Spielt er mit Schwarz, kann Carlsen die Richtung bestimmen, das Risiko höher schrauben.

Standard: Wird sich der Charakter der Partien nun ändern, muss der Norweger noch mehr Offensivge­ist zeigen? Ragger: Die nächsten beiden Partien werden ähnlich verlaufen wie bisher. Karjakin wird ruhig agieren. Carlsen wird versuchen zu gewinnen, aber noch nichts Drastische­s probieren. Sollte er dann noch immer zurücklieg­en, stellt sich die Frage, ob er alles auf die zwölfte und letzte Partie mit Weiß setzt, oder ob er schon in der elften Partie mit Schwarz riskiert.

Standard: Karjakin meinte schon vor der WM, Carlsen müsste sein bestes Schach zeigen, um ihn zu bezwingen. Spielt der Weltmeiste­r auf seinem höchsten Niveau? Ragger: Die ersten Partien waren intensiv, nun machen sich die Anstrengun­gen allmählich bemerkbar. Schach hat sich in den letzten Jahren unglaublic­h entwickelt. Man merkt doch, dass der Druck der Weltmeiste­rschaft auf beiden Spielern lastet.

MARKUS RAGGER (28) aus Kärnten ist mit einer Elo-Zahl von 2694 die Nummer 45 der Schach-Weltrangli­ste und die Nummer eins im deutschspr­achigen Raum. pSpielberi­chte und Videoanaly­sen

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Fotos: Reuters, Cremer Der zähe Sergej Karjakin (rechts) treibt Weltmeiste­r Magnus Carlsen zur Verzweiflu­ng. Nach acht von zwölf Partien führt er mit 4,5:3,5.
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