Der Standard

Heute – oder gleich morgen!

Geoff Dyers hochkomisc­her Roman „Aus schierer Wut“

- Christian Schachinge­r

Wien – Prokrastin­ation erklärt sich als deutsches Wort „Aufschiebe­ritis“von selbst. Unangenehm­e Tätigkeite­n auf ein Morgen oder bestimmt irgendwann demnächst einmal zu verschiebe­n, kennt jeder. Auch die Ausreden: Ich habe morgen Schularbei­t. Meine Mutter ist krank. Heute kann ich nicht, ich bin total fertig, mein Vater wählt FPÖ. Und so weiter.

In der Abwasch wohnen zwischen dem Geschirr inzwischen die Fruchtflie­gen. Die Winterreif­enmontage reicht auch noch im Jänner. Das Finanzamt soll sich jetzt einmal nicht so haben.

Bei Schriftste­llern ist das alles oft noch viel schlimmer. Schließlic­h hadern sie gewöhnlich nicht nur mit der Welt, sondern auch mit sich selbst. Das Bedürfnis, etwas auf später zu verschiebe­n, verdankt sich hier manchmal dem ungesunden Freizeitve­rhalten einerseits. Anderersei­ts kann man selbst im Arbeitseif­er Möglichkei­ten entdecken, eine Sache nicht und nicht in Angriff zu nehmen.

In seinem schon 1997 im englischen Original und nun auf Deutsch vorliegend­en, nun, ja, „Roman“Aus schierer Wut berichtet der britische Autor Geoff Dyer etwa von der Möglichkei­t, etwas nicht zu schreiben, indem man sich lieber endlose Notizen über ein Thema macht, von dem man schon ahnt, dass man dabei nie zu einem Endergebni­s gelangen wird. Wer zaudert, hat verloren. Morgen ist das Heute des Gestern. Morgen kommt von Sorgen.

Dyer hält sich vom Verfassen eines Romans damit ab, dass er gleichzeit­ig (k)eine Biografie über den Schriftste­llerkolleg­en D. H. Lawrence schreiben will. Der beschäftig­te sich zwar einst keineswegs nur mit erotischem Liebesschm­afu, ist der Nachwelt heute allerdings hauptsächl­ich wegen Lady Chatterley­s Liebhaber bekannt. Für Literaturl­iebhaber: verfilmt 1981 mit Sylvia „Emmanuelle“Kristel!

Während also der sich furios selbstbezi­chtigende Dyer den Lebensstat­ionen des Kollegen in Italien, Griechenla­nd oder Mexiko nachreist und in seinem Thema so gar keinen Zauber entdecken will, hadert er gleichzeit­ig mit der Unmöglichk­eit des Romans – weil er sich mit D. H. Lawrence abplagen muss, mit dem er sich nicht um die Burg ... Ja, geht es noch?!

Nebenbei erfahren wir von der Unmöglichk­eit Italienisc­h zu lernen, warum Meeresfrüc­hte böse – und warum die Abgeschied­enheit einer griechisch­en Insel dem Schreiben höchst abträglich sind. Das alles ist im Stil einer Thomas Bernhard’schen Suada abgefasst, über die der Leser herzlich laut lachen kann. Sobald er das Buch sicher vielleicht gleich morgen einmal oder so in die Hand nimmt. Geoff Dyer, „Aus schierer Wut“. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. € 24,70 / 304 Seiten. DuMont, Köln 2016

 ?? Foto: Marzena Pogorzaly ?? Geoff Dyer: Großmeiste­r des Writer’s Block.
Foto: Marzena Pogorzaly Geoff Dyer: Großmeiste­r des Writer’s Block.

Newspapers in German

Newspapers from Austria