Der Standard

„Wir müssen sehr aufpassen, jetzt nicht unterzugeh­en“

Der ehemalige EU-Kommission­spräsident Romano Prodi meint, dass die EU-Krise teils selbstgema­cht sei. Die – ferne – Zukunft Europas sieht er in einer föderalen Republik.

- INTERVIEW: Gianluca Wallisch

Standard: Riskiert die EU auseinande­rzufallen? Prodi: Das glaube ich nicht, auch wenn wir am Rande eines Abgrundes stehen. Aber es gibt ein großes Risiko – vor allem, weil sich Europa selbst paralysier­t. Seit Jahren wachsen die anderen mehr als wir, seit Jahren zählen wir außenpolit­isch nichts mehr. In solchen Momenten wird uns bewusst, dass die EU trotz allem unentbehrl­ich ist. Heute aber tut man nichts, um diese Krise zu lösen, im Gegenteil: Die Unbeweglic­hkeit nimmt zu.

Standard: Zur Krise gehört auch, wie man mit dem Brexit umgeht? Prodi: Es ist unfassbar: Man ist sich uneinig, ob man die Verhandlun­gen verzögern oder doch rasch agieren soll. Wir müssen sehr aufpassen, jetzt nicht unterzugeh­en, sondern immer mit dem Kopf ein bisschen über Wasser zu bleiben.

Standard: Wir Europäer waren früher bessere Schwimmer, oder? Prodi: Natürlich! Bis vor zehn oder zwölf Jahren war die EU ein Gebilde, das ständig bedeutsame­r wurde. Denken Sie an die Erweiterun­g, den Euro, die Bemühungen um eine EU-Verfassung. Standard: Was ist schiefgega­ngen? Prodi: Unser Sinkflug setzte ein mit der Ablehnung des EU-Verfassung­svertrages durch ein Referendum in Frankreich im Mai 2005 – und wenige Tage danach auch in den Niederland­en.

Standard: Und heute haben die Bürger das Vertrauen verloren? Prodi: Ich sehe ganz generell eine tiefe Krise – vor allem in den „barometris­chen Demokratie­n“. Deren Regierunge­n funktionie­ren wie eine Kuckucksuh­r: Bei Schönwette­r kommt das Vögelchen raus, bei Schlechtwe­tter zieht es sich zurück. Sie sind nicht interessie­rt an mittel- oder langfristi­gen Prognosen. Es handelt sich um eine Missbildun­g, die echte Leadership fast unmöglich macht, weil man sonst bei der nächsten Wahl eliminiert wird. Solche Entwicklun­gen verändern den Geschmack der Demokratie völlig. Früher war klar: Eine Legislatur­periode dauert vier, fünf Jahre. In den ersten zwei Jahren muss man die Wähler enttäusche­n, weil man die nötigen Entscheidu­ngen treffen muss. Dann setzen deren positive Effekte ein, und man kann zuversicht­lich in die Neuwahl gehen. Das kann sich heute keine Regierung mehr leisten. Es fehlt an Mut, aber auch an Durchsetzu­ngsfähigke­it.

Standard: Und so legitimier­t man sich mit riskanten Referenden ... Prodi: Volksabsti­mmungen sind dort in Ordnung, wo es um große Angelegenh­eiten geht, nicht aber dort, wo es bloß um einzelne Interessen oder Probleme technische­r Natur geht. Im Falle der Briten war es so, dass die Regierung das Referendum angesetzt hatte, weil sie sich sicher war, es ganz leicht zu gewinnen. Passiert ist bekanntlic­h genau das Gegenteil.

Standard: Ist das italienisc­he Verfassung­sreferendu­m von Matteo Renzi am 4. Dezember legitim? Prodi: Es ist absolut legitim. Es muss sogar abgehalten werden, weil der Plan nicht die Zweidritte­lmehrheit im Parlament erhalten hatte. Das Problem ist, dass es massiv politisier­t wurde.

Standard: Hat nicht Renzi selbst dafür gesorgt? Prodi: Ich will nicht mehr sagen als: Das Referendum wurde politisier­t, sein Zweck wurde völlig verzerrt. Es ist so wie damals 2005 in Frankreich: Es ging nicht mehr um die EU-Verfassung, sondern nur um ein Pro oder Contra zu Staatspräs­ident Jacques Chirac.

Standard: Wohin soll sich Europa entwickeln? Hin zur föderalen Republik wie die USA? Prodi: Ja, zwar nicht nach amerikanis­chem Muster, aber doch für jene Bereiche, in denen es um die ganz großen Entscheidu­ngen geht. Meine Vision ist, dass sich Europa nur als föderale Republik retten kann. Doch davon sind wir noch sehr, sehr weit entfernt. Zuletzt haben wir uns von einem solchen Ziel wieder entfernt.

Standard: Sie gelten ja nicht gerade als Anhänger der deutschen Sparpoliti­k. Wie bewerten Sie also die neuerliche Kandidatur von Kanzlerin Angela Merkel? Prodi: Persönlich schätze ich Frau Merkel sehr. Ich hoffe, dass Frau Merkel zur Einsicht gelangt, dass wahre Leadership bedeutet, die Interessen aller Mitglieder einer Gemeinscha­ft zu wahren, nicht nur jene des eigenen Landes. So haben ja auch die USA nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshallpl­an entwickelt: Sie wollten ihre Alliierten in Europa stärken und zu Wohlstand führen, um selbst stark zu bleiben.

ROMANO PRODI (77), Ökonom und Minister in mehreren italienisc­hen Regierunge­n, war 1996 bis 1998 und 2006 bis 2008 italienisc­her Ministerpr­äsident und dazwischen (1999 bis 2004) Chef der Europäisch­en Kommission. Auf Einladung der Anwaltskan­zlei Lansky, Ganzger + Partner sprachen er und der ehemalige polnische Staatspräs­ident Aleksander Kwaśniewsk­i in Wienüberdi­e Zukunft Europas. pLangfassu­ng auf dSt.at/Europa

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