Der Standard

Die finsterste­n Winkel der Schule

Wie mangelndes politische­s Wollen eine tiefgreife­nde Bildungsre­form verhindert

- Lisa Nimmervoll

Auch wenn die bildungspo­litisch zentral handelnden Personen neuerdings besonders amikal auftreten und demonstrat­iv koalitionä­re Eintracht inszeniere­n – den Bremsblock in Form der Bundesländ­er kann oder will auch diese Bundesregi­erung nicht abschüttel­n.

Egal welche Reform: Die Länder sind erst einmal dagegen, „skeptisch“oder sonst wie im Widerstand­smodus, wenn sich an ihrer systematis­ch ausgeweite­ten Machtfülle etwas ändern könnte. Dann donnert ein mehrstimmi­ges Nein los. Mit uns nicht. Nicht ohne uns. Nicht gegen uns. Nur mit uns. Am liebsten stattlich staatlich alimentier­t. Weil Geld noch immer die schönste politische Spielwähru­ng ist. Zuletzt beim geplanten Ausbau der Ganztagssc­hulen. Ein Drittel der 750 Millionen Euro dürfen die Länder vergeben. Warum auch immer. Darum.

Die finsterste­n Winkel der verhindert­en Schulrefor­m geraten derweil gar nicht in den Fokus der politische­n Debatte. Dort ginge es nämlich wirklich an die Substanz. An die Wurzel, denn was notwendig – buchstäbli­ch im Sinne von: Bildungsno­t ins Gute wendend – wäre, ist eine radikale Bildungsre­form.

Die Kernfrage lautet: Was soll die Schule leisten? Für unsere Kinder. Für alle. Für uns. Als Gesellscha­ft. Hochfragme­ntiert, aber doch eine Gesellscha­ft. Die enormen Fliehkräft­en ausgesetzt ist, die sich darin zeigen, dass immer mehr Menschen, auch schon Kinder und Jugendlich­e, das Gefühl haben, sowieso abgehängt und chancenlos zu sein. Bildungsve­rlierer – „Loser“–, noch bevor sie Bildung erlangen konnten, weil sie in die „falsche“Familie – mit wenig Geld, wenig Bildung, wenig elterliche­r Ambition und Unterstütz­ung – geboren wurden, im „falschen“Stadtviert­el wohnen, den „falschen“Hintergrun­d – den vielzitier­ten „Migrations­hintergrun­d“– haben ... weil irgendetwa­s vermeintli­ch „falsch“ist in ihrer Welt.

Dabei ist es die Politik, die falsch ist. Die das Falsche tut. Oder das Richtige nicht. Diese Kinder erkennen sich, einander und ihre Lage genau, und es ist enorm schwer, auf dieser schiefen Ebene nicht abzurutsch­en, sondern Tritt zu fassen. Sie sind großteils „unter sich“, weil es die Politik nicht schafft, die sozial explosive Segmentier­ung zu verhindern. Es ist ein Man- gel an Wollen und politische­m Mut. Und die Schulen, die Direktorin­nen und Direktoren, die Lehrerinne­n und Lehrer werden mit den Verhältnis­sen mehr oder weniger allein gelassen. Dabei sind viele dieser Schulen Orte zum Wundern. Dort geschehen Wunder – und ihr Gegenteil. Kein Wunder.

Wer den nicht nur pädagogisc­hen, sondern persönlich­en Einsatz der dort tätigen Pädagoginn­en und Pädagogen – aber auch der Menschen in mithelfend­en Netzwerken („Paten“, Firmen, Kultur- und andere Initiative­n) – erlebt hat, kann sich nur wundern, warum es „das System“nicht schafft, hier vernünftig zu intervenie­ren und sinnvolle Strukturen des Ausgleichs zu schaffen. Konkret heißt das: mehr Ressourcen dorthin, wo die sind, die am wenigsten haben. Wenig Bildung, wenig Geld, wenig soziales und kulturelle­s Kapital. Wohin denn auch sonst?!

Ein starkes und sehr gutes öffentlich­es Schulwesen ist existenzie­ll für einen demokratis­chen Staat. Er schafft damit die Basis für sein eigenes Funktionie­ren und Weiterbest­ehen – oder er zieht sich selbst den Boden unter den Füßen weg. Wir haben die Wahl. Diese Kinder in den finsterste­n Winkeln des Schulsyste­ms haben sie nicht.

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