Der Standard

KOPF DES TAGES

Basketball­affiner Regierungs­chef mit grüner Ader

- Gianluca Wallisch

Nur wenige Tage brauchte Opposition­spolitiker Jüri Ratas, um eine neue Regierung für Estland zusammenzu­stellen – und nun tauscht er im Parlament seinen bisherigen Platz als Vizepräsid­ent mit jenem zentralen auf der Regierungs­bank. Für viele Beobachter der estnischen Politiksze­ne war es nur eine Frage der Zeit, bis Ratas Premier werden würde. Jetzt, mit 38 Jahren, ist es so weit.

Schon in jungen Jahren hatte der Sohn eines Staatssekr­etärs im Umweltmini­sterium eine erstaunlic­he Karriere hingelegt. Nach Abschluss wirtschaft­s- und rechtswiss­enschaftli­cher Studien in Tallinn war er zwar zunächst in die Privatwirt­schaft gegangen, machte dann aber doch rasch kehrt und trat im Jahr 2000 der Zentrumspa­rtei bei.

Dort legte der passionier­te Basketball­er – er ist heute Präsident des estnischen Nationalve­rbands – einen erstaunlic­hen Durchmarsc­h hin: zunächst als wirtschaft­spolitisch­er Berater des Tallinner Oberbürger­meisters und damaligen Parteichef­s Edgar Savisaar, dann als Vizebürger­meister und schließlic­h – 2005, als 27-Jähriger – sogar als Oberbürger­meister der estnischen Hauptstadt.

Ratas galt damals auch als Mitinitiat­or der Aktion „Umwelthaup­tstadt Europas“der Europäisch­en Union; ein Titel, den seine Heimatstad­t bisher aber noch nicht erringen konnte.

Kaum eineinhalb Jahre später verließ Ratas, Mitglied der kleinen, knapp 6000 Getaufte zählenden Baptisteng­emeinde des Landes, das Rathaus und wurde Vizepräsid­ent des Riigikogu, des Ein-KammerParl­aments mit 101 Abgeordnet­en.

Als der verheirate­te Vater einer Tochter und zweier Söhne vor wenigen Wochen seinen politische­n Ziehvater Savisaar als Parteichef beerbte, ging plötzlich alles Schlag auf Schlag: Nach dem Misstrauen­svotum gegen den liberalen Premier Taavi Rõivas wegen eines Konflikts über die Entsendung von Parteienve­rtretern in die Aufsichtsr­äte von Staatsunte­rnehmen erhielt Ratas seine Chance, aus der Opposition in die Regierung zu wechseln.

Wenn Ratas’ Partei auch oft als linksgeric­htet bezeichnet wird, ist ihre Charakteri­sierung doch eher die einer klassische­n Zentrumspa­rtei; zwar im bäuerliche­n Stand verwurzelt, aber mit einer starken sozialen Agenda ausgestatt­et. Die stärkste Veränderun­g dürfte es in den kommenden Monaten in der Wirtschaft­spolitik geben: Ratas befürworte­t eine Abkehr vom stark neoliberal­en Kurs des EU- und NatoLandes, den sein Vorgänger eingeschla­gen hatte.

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Foto: AFP Jüri Ratas (38) ist neuer estnischer Ministerpr­äsident.

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