Der Standard

Die Europäisch­e Union und die Kernfrage

Mitgliedsl­änder verfolgen verschiede­ne Strategien in Energiepol­itik – Türkei hat schon länger AKW-Pläne

- Julia Schilly

Verrückt und unverantwo­rtlich“, nannte die deutsche Umweltmini­sterin Barbara Hendricks Mitte Mai ein Strategiep­apier der EU-Kommission. Klare Worte, denn während Deutschlan­d alle Atomkraftw­erke bis 2022 vom Netz nehmen will, denkt die EU-Kommission darin über Förderunge­n der Atomenergi­e nach. Die Kommission beschwicht­ige schnell: Es ginge darum, die technologi­sche Spitzenpos­ition in der Atomenergi­e zu sichern. Denn Atomkraft deckt 27 Prozent des EU-Strombedar­fs.

Die Debatte rund um die europäisch­e Energiepol­itik spitzte sich in den vergangene­n Monaten zu. Nicht erst seit der Nuklearkat­astrophe von Fukushima im Jahr 2011 verfolgen die Mitgliedsl­änder teilweise sehr konträre Richtungen. In der EU gibt es derzeit rund 130 Atomkraftw­erke in 14 Mitgliedst­aaten. Sie haben eine Kapazität von etwa 121 Gigawatt. Länder wie Deutschlan­d, Belgien oder die Schweiz wollen aussteigen. Polen plant hingegen erstmals den Bau von AKWs. Als Grund wird Klimaschut­z genannt: Das Land stillt seinen Energiebed­arf bislang großteils durch Kohlestrom.

Die Internatio­nale Energieage­ntur in Paris unterstütz­t diese Linie: Sie hält die Verdopplun­g der globalen Atomkraftl­eistung bis zum Jahre 2050 für notwendig, um die bei der Klimakonfe­renz in Paris fixierten Ziele zu erreichen. „Der Glaube, dass Atomkraft das Klima retten wird, ist völlig absurd. Abgesehen von dem existenzie­llen Risiko dieser Technologi­e, verhindert Kernkraft nachweisli­ch den Ausbau erneuerbar­er Energie“, entgegnet Greenpeace-Klimasprec­her Adam Pawloff.

Einstieg und Neubau

Die Position des „Atomenergi­elands“Frankreich ist schwammig. 2015 wurde zwar ein Energiewen­degesetz beschlosse­n, das die Reduktion des Anteils von Atomstrom von 75 auf 50 Prozent bewirken soll, aber der staatliche Konzern Électricit­é de France will kaum Reaktoren herunterfa­hren.

In der Türkei gibt es seit den 1970er-Jahren Pläne für Kernkraftw­erke. Aber erst Tayyip Erdogan hat Bauprojekt­e gestartet. „Ohne Atomkraft gibt es keine Entwicklun­g“, bekräftigt­e Energiemin­ister Taner Yildiz.

Und Großbritan­nien will das erste neue Atomkraftw­erk seit zwei Jahrzehnte­n bauen, obwohl beste Voraussetz­ungen für die Ausweitung der Gewinnung erneuerbar­er Energie durch Offshore-Windparks herrschen. So soll Hinkley Point C in Somerset errichtet werden. Österreich und andere Staaten haben bereits vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) gegen die von der EUKommissi­on gebilligte­n staatliche­n Beihilfen geklagt. Der Ausgang gilt als richtungsw­eisend in der EU-Energiepol­itik.

Auch andere AKW-Projekte in der EU sind unter anderem wegen milliarden­schwerer Staatssubv­entionen umstritten. In der direkten Nachbarsch­aft Österreich­s betrifft das Paks II. Vizekanzle­r Reinhold Mitterlehn­er (ÖVP) hat diese Woche damit gedroht, dass Öster- reich den EuGH anrufen könnte, wenn die EU-Kommission milliarden­schwere Staatsbeih­ilfen für das ungarische Atomkraftw­erk genehmigt. Die EU-Kommission hat erst vergangene Woche ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren gegen Ungarn wegen der Vergabe des 12,5 Milliarden schweren Auftrags zum Ausbau an einen russischen Staatskonz­ern eingestell­t. Noch nicht entschiede­n ist das EU-Verfahren in puncto Staatsbeih­ilfen. Ungarn wolle die Angelegenh­eit bilateral regeln, hieß es am Donnerstag.

Die Atomindust­rie läuft unterdesse­n Sturm gegen Ausstiegse­rklärungen: In Deutschlan­d klagen etwa Eon, RWE und Vattenfall vor dem Bundesverf­assungsger­icht, ob der 2011 beschlosse­ne Ausstieg grundsätzl­ich rechtmäßig ist. Eon fordert zudem wegen des zeitweisen Ausfalls der Stromprodu­ktion mehr als 382 Millionen Euro Schadeners­atz. Die sieben ältesten Meiler in Deutschlan­d mussten nach Fukushima für drei Monate für Sicherheit­stests vom Netz genommen werden.

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