Der Standard

Ankara verärgert über „unkluge Debatten ohne Vision“in Europa

Medienkamp­agne gegen „Terror-EU“in der Türkei

- Markus Bernath

Ankara/Athen – Er wollte eine klare Entscheidu­ng der EU bis Jahresende – doch diese hier zählt nicht: Der türkische Staatspräs­ident Tayyip Erdogan hat bereits vor der Abstimmung des Europaparl­aments am Donnerstag über eine Unterbrech­ung der Beitrittsv­erhandlung­en die Resolution aus Straßburg für wertlos erklärt.

Sein EU-Minister Ömer Çelik wiederholt­e, sichtlich verärgert, diese Einschätzu­ng kurze Zeit nach der Abstimmung. Statt Solidaritä­t mit der Türkei gebe es in Europa „unkluge Debatten ohne Vision“, sagte Çelik.

Kritik an den Verhaftung­en und der noch größeren Einschränk­ung der Meinungsfr­eiheit nach dem vereitelte­n Putsch vom vergangene­n Juli lässt die politische Führung in Ankara nicht gelten. Der türkischen Öffentlich­keit gegenüber stellt sie die Position der EU als Unterstütz­ung der kurdischen Untergrund­armee PKK und der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen dar. „Das Europaparl­ament stimmt für den Terror“, lautete demgemäß die Schlagzeil­e eines türkischen Nachrichte­nkanals am Donnerstag.

Die größte Opposition­spartei, die Sozialdemo­kraten der CHP, hatte die EU-Parlamenta­rier vergeblich zum Verzicht auf die Resolution aufgerufen. „Die Türkei ist größer als Erdogan“, erklärte Parteispre­cherin Selin Sayek Böke und wies auch auf die wirtschaft­liche Verflechtu­ng der Türkei mit Europa hin; knapp die Hälfte der Exporte gehen in die EU.

Ein tatsächlic­hes Einfrieren der Verhandlun­gen würde sehr viele negative Folgen haben, sagte der türkische Politikpro­fessor Ayhan Kaya dem Standard. Die Auswirkung­en würden die türkische Zivilgesel­lschaft und die akademisch­en Kreise im Land spüren, aber auch der Flüchtling­spakt zwischen der EU und der Türkei werde davon betroffen sein. „Die EU sollte besser weiter Einfluss auf die Türkei haben, indem sie die Verhandlun­gen laufen lässt, den Visazwang aufhebt und sogar ein konkretes Jahr für den Beitritt benennt – 2023 oder 2025, vorausgese­tzt, alle Kapitel sind erfolgreic­h geschlosse­n –, um die türkische Regierung in Schach zu halten“, sagte Kaya, der den JeanMonnet-Lehrstuhl für europäisch­e Politik an der Istanbuler Bilgi-Universitä­t hält.

Der österreich­ische Diplomat Christian Berger übergab am Mittwoch sein Beglaubigu­ngsschreib­en als neuer Leiter der EU-Delegation in Ankara. Berger wurde kurz von Erdogan empfangen.

Die türkischen Spannungen mit der EU tragen auch zum Verfall der türkischen Lira bei. Die Zentralban­k in Ankara setzte sich am Donnerstag über den Wunsch Erdogans hinweg und hob einen ihrer Leitzinssä­tze erstmals seit fast drei Jahren um 0,5 Punkte an. Die Lira kletterte gleichwohl auf einen neuen Rekord von 3,42 für einen US-Dollar.

Terroransc­hlag in Adana

Begleitet wurde der Tag des Votums in Straßburg von einem Terroransc­hlag in der türkischen Stadt Adana. Eine Autobombe explodiert­e am Morgen auf dem Parkplatz vor dem Gouverneur­sgebäude, kurz vor dem Eintreffen des Wali. Zwei Menschen wurden getötet. Die Polizei vereitelte später angeblich einen zweiten Anschlag mit einer Autobombe.

Drei Monate nach dem Einmarsch in Syrien griff die Luftwaffe des syrischen Regimes erstmals eine türkische Stellung an. Drei Soldaten wurden dabei getötet.

Die türkische Justiz ließ diese Woche auch eine der bekanntest­en Musikgrupp­en des Landes festnehmen. Den sieben Bandmitgli­edern von Yorum wird offenbar Unterstütz­ung einer Terrororga­nisation vorgeworfe­n. Yorum (Türkisch für Meinung) ist eine politisch weit links stehende, seit 30 Jahren aktive Musikgrupp­e.

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