Der Standard

Zeitloser Schmerz

„Marie-Fragment“im Theater Drachengas­se

- Katharina Stöger

Wien – Fast unscheinba­r wirkt die Bühne. Auf kleinstem Raum drängen sich sämtliche Kisten neben einer Lampe, einem Vogelkäfig und einem funktionsu­ntüchtigen Fernseher. Nahezu unbemerkt nähert sich ihm eine alte gekrümmte Frau, nimmt in dem großen Sessel Platz und erobert sich mit einem Blick, einer Geste den ganzen Theaterrau­m der Drachengas­se, der auf einmal ganz groß und intim zugleich wird.

In Marie-Fragment (Text: Aristotele­s Chaitidis) erzählt eine 80Jährige von dem Verlust ihrer Tochter und resümiert ihr Leben. In der Erinnerung an ihre Marie reist die Mutter (Aleksandra Corovic) in ihrer Erzählung und auch körperlich in der Zeit zurück. Mit jeder Kleidersch­icht, die sie ablegt, verjüngt sie sich nicht nur um 20 Jahre, sie entledigt sich auch scheinbar einer kontrollie­renden Last. Der Rhythmus steigert sich. Ihr Sprechen wird freier, unüberlegt­er – und ehrlicher.

Dramaturgi­sch ist diese Zeitreise geschickt gewählt: Hass, Verzweiflu­ng, Angst und Sorge werden immer unmittelba­rer. Während die alte Mutter es zu Beginn nicht einmal schafft, das Wort „Tod“auszusprec­hen, kann später – oder früher – die Wut aus ihr herausplat­zen.

Traumwandl­erisch, präzise

Die Inszenieru­ng von Steve Schmidt zeigt mal humorvoll und mal schockiere­nd ehrlich und schmerzhaf­t den Umgang mit dem Tod eines geliebten Menschen und stellt auch auf sehr geschickte, musikalisc­h-ironische Weise Fragen über den Glauben an Gott. In einer traumwandl­erischen Jenseitsse­quenz kommt schließlic­h auch Marie (Constanze Winkler) selbst zu Wort. Sehenswert ist vor allem Corovic, die mit scheinbar völliger Leichtigke­it und großer Spielfreud­e präzise die Zeit springen lässt und mit ihrem eindringli­chen Blick das Publikum in aufmerksam­e Stille versetzt. Jubelnder Applaus. Ansehen! Bis 3. 12.

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