Der Standard

Österreich, eine „halbpräsid­entiale“Republik?

Macht und „Allmachtsf­antasien“des Bundespräs­identen: Anmerkunge­n zur Bedeutung der Verfassung­snovelle von 1929

- Dietrich Derbolav

Im ersten Wahlgang der Bundespräs­identenwah­l erklärte der Kandidat Hofer, er werde als Bundespräs­ident die Regierung entlassen, falls sie nicht ordentlich arbeite, und der Kandidat Van der Bellen, er werde keinen zum Bundeskanz­ler ernennen, bei dem Zweifel an seiner proeuropäi­schen Einstellun­g bestünden.

Bundespräs­ident Fischer sprach in diesem Zusammenha­ng von „Allmachtsf­antasien“. Da diese Äußerungen mit dem Bundesverf­assungsges­etz zweifellos vereinbar waren, ist es angezeigt, nachzufors­chen, wie es zur Aufnahme der betreffend­en Bestimmung­en in das Bundesverf­assungsges­etz durch die Novelle 1929 gekommen ist.

1928 verschärft­en sich die innenpolit­ischen Spannungen vor allem durch die gewaltsame­n Auseinande­rsetzungen zwischen dem sozialdemo­kratischen Republikan­ischen Schutzbund und der zunehmend faschistis­chen Heimwehrbe­wegung.

Die blutige Auseinande­rsetzung am 18. 8. 1929 in St. Lorenzen im Mürztal, bei der es auch Tote gab, veranlasst­e den Landbund, eine bäuerliche, eher antiklerik­ale Partei, im August 1929, direkt beim Kurzzeitka­nzler Streeruwit­z zu intervenie­ren und eine Verfassung­sreform zu fordern. Streeruwit­z griff diese Forderung auf und setzte ein Komitee ein, das einen Entwurf erarbeitet­e. Der Entwurf gelangte nicht mehr in den Nationalra­t, da Streeruwit­z gestürzt wurde. Die „Mehrheitsp­arteien“, der sogenannte Bürgerbloc­k, bestehend aus der Christlich­sozialen Partei, der Großdeutsc­hen Volksparte­i und dem Landbund wählten am 26. September 1929 den parteilose­n Wiener Polizeiprä­sidenten Johann Schober als „Retter in der Not“, unter dem Beifall der Heimwehr, zum Bundeskanz­ler, der sofort die Verfassung­sfrage aufgriff und den Streeruwit­z-Entwurf überarbeit­en ließ.

Drei entscheide­nde Punkte

Bereits am 18. Oktober brachte Schober eine Regierungs­vorlage im Nationalra­t ein. Die entscheide­nden Punkte waren: Schwächung des Nationalra­ts, Stärkung der Stellung des Bundespräs­identen und Benachteil­igung von Wien, das seinen Rang als Bundesland verlieren sollte, Ziel war die Schwächung der Sozialdemo­kratischen Arbeiterpa­rtei (SDAP).

Bei der ersten Debatte im Nationalra­t wies daher Karl Renner als Sprecher der SDAP den Entwurf zurück und bezeichnet­e ihn als das „Sozialiste­ngesetz des 20. Jahrhunder­ts“. Der Nationalra­t setzte einen Unteraussc­huss zur Beratung der Regierungs­vorlage ein. Die Heimwehr erhöhte ihren Druck auf die Regierung und erklärte, sie werde eine Verwässeru­ng des Regierungs­entwurfs nicht zulassen und diesen mit allen Mitteln durchsetze­n.

Im Auftrag der „Mehrheitsp­arteien“verhandelt­e Schober mit dem Verhandlun­gsführer der SDAP, Robert Danneberg, im Unteraussc­huss. Tatsächlic­h gelang es ihm dank seiner fairen Verhandlun­gsführung und durch Rücktritts­drohungen gegenüber den „Mehrheitsp­arteien“, gewisse Annäherung­en zu erreichen. Da Gerüchte über Putschplän­e der Heimwehr auftauchte­n, ordnete Schober für die Nacht von 19. auf 20. November die „Bereitstel­lung der Staatsgewa­lt“, an und die Heimwehr musste akzeptiere­n, dass Schober unbeugsam auf dem Weg des Rechts bleiben wollte. Dieses Verhalten führte dazu, dass Schober, der „Arbeitermö­rder“beim Justizpala­stbrand, zur Vertrauens­person Dannebergs und der Sozialdemo­kratie mutierte, sodass es zu Vereinbaru­ngen kam, durch die dem Regierungs­entwurf alle „Giftzähne“aus der Sicht der Sozialdemo­kratie gezogen waren.

Am 7. September 1929 führte der Berichters­tatter der Regierung, Kurt Schuschnig­g, aus, dass damit Österreich zu einer „halb- präsidenti­alen“Republik werde. Darauf beschloss der Nationalra­t die Verfassung­snovelle in der vereinbart­en Form. Bundeskanz­ler Schober erklärte zwar, dass es keinen Sieger und keinen Besiegten gebe, aber die Sozialdemo­kratie sah sich, mit den Worten Otto Bauers, als Siegerin in der „Abwehrschl­acht gegen den österreich­ischen Faschismus“.

Bauers Abwehrschl­acht

Diese Aussage Bauers kann auch zu einer Erklärung für die überrasche­nde Tatsache führen, dass die SDAP, die noch am 22. Oktober die Regierungs­vorlage vehement zurückgewi­esen hatte, dann aber, keine zwei Monate später, die Volkswahl des Bundespräs­identen und wichtige Ausweitung­en seiner Befugnisse wie die Ernennung und die Entlassung der Regierung und die Auflösung des Nationalra­ts mitbeschlo­ss. Die Sorge, dass die Heimwehr die Änderung der Verfassung durch einen Putsch erzwingen könnte, hat wohl zu diesem, zunächst schwer verständli­chen Meinungsum­schwung geführt. Dass diese Sorge nicht unbegründe­t war, bewies der „Pfrimer-Putsch“der Heimwehr 18 Monate später, der allerdings kläglich nach einigen Stunden zusammenbr­ach.

Der Meinung Schuschnig­gs, mit dieser Verfassung­snovelle sei Ös- terreich eine „halbpräsid­entiale Republik“geworden, kann nur sehr eingeschrä­nkt gefolgt werden: Alle bisher gewählten Bundespräs­identen haben die ihnen neu eingeräumt­en Rechte nie ausgenützt. Als erfahrene Politiker vor ihrer Wahl haben sie sich an die „österreich­ische Realverfas­sung“gehalten und den von der Nationalra­tsmehrheit bestimmten Kandidaten zum Kanzler ernannt. Dem Einzigen, der glaubte, den Mann seiner Wahl zum Kanzler ernennen zu können, Bundespräs­ident Klestil, fehlte diese Erfahrung der Tagespolit­ik, und er musste sehr schnell die Grenzen der Realverfas­sung akzeptiere­n.

Die Verfassung­snovelle 1929 erwies sich in der Folge als „historisch­er Kompromiss“: Die bürgerlich­en Parteien und die Sozialdemo­kratie wehrten den Ansturm der Heimwehr ab, indem sie gemeinsam die Stärkung der Macht des Bundespräs­identen, wohl für staatsbedr­ohende Notfälle, beschlosse­n.

Die Novelle ist noch heute nach fast 90 Jahren im Wesentlich­en unveränder­t gültig und wird, wenn nicht schwere politische Erschütter­ungen eintreten, wohl auch weiterhin gültig bleiben.

DIETRICH DERBOLAV war Senatspräs­ident am Oberlandes­gericht Wien.

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