Warum das Land nicht mehr nur blau ist
Vom Wiener „Ausländerviertel“bis zur katholischen Vorarlberger Walsergemeinde: Alexander Van der Bellens Wählerschaft hat viele Gesichter. Mancherorts rüttelte der Ex-Grüne sogar an Norbert Hofers Dominanz in den Landgebieten.
Wien/Bregenz – Anton Schiffmann hat den Erdrutsch nicht ausgelöst. Der Bürgermeister wählte zwar Alexander Van der Bellen, behielt seine Präferenz vor dem Wahltag aber für sich. Weil die Leut’ selbst entscheiden sollten, verzichtete Schiffmann darauf, den Dorfbürgern eine Wahlempfehlung zu geben – obwohl er jedem einzelnen der 130 Wahlberechtigten ins Gewissen hätte reden können.
Trotzdem bescherte Sankt Sigmund im Sellrain, einem Seitental des Inntals, Van der Bellen einen Triumph: Mit einem Plus von 20,97 Prozent gegenüber der Erstauflage der Stichwahl legte der Sieger vom Sonntag hier so stark zu wie in keiner anderen Gemeinde Österreichs.
Warum das so ist, fragt sich der Ortschef selbst. Die Arithmetik – weniger Wahlkarten, die nicht dem Gemeindeergebnis zugerechnet werden – kann VdBs Zuwachs nur zum Teil erklären. Möglicherweise hätten die Wahlaufrufe von Vizekanzler Reinhold Mitterlehner und dem Tiroler Ex-EU-Kommissar Franz Fischler Eindruck gemacht, mutmaßt Schiffmann, ein Parteifreund der beiden. In den Gebirgstälern des heiligen Landes zählt das Wort eines ÖVPKapazuders eben noch etwas.
Der lokale Ausreißer widerspricht, zumindest auf den ersten Blick, einer groben Regel: Auch der zweite Anlauf der Stichwahl offenbarte ein Stadt-Land-Gefälle. Während Van der Bellen in urbanen Zentren abräumte, ist der ländliche Raum Terrain Norbert Hofers. Doch im Gegensatz zum Ergebnis vom 22. Mai ist das Muster der politischen Landkarte nun stärker durchbrochen.
Den Westen gewonnen
Weite Teile Salzburgs, Kärntens, der Steiermark und des Burgenlandes sind zwar nach wie vor blau, im ebenfalls nicht rasend städtischen Mühlviertel in Oberösterreich sieht die Lage aber anders aus: Van der Bellen errang dort in der Überzahl der Gemeinden die Mehrheit, das Gleiche gilt für den Süden des Bundeslandes. Viel Rückhalt hatte der künftige Präsident auch im Tiroler Oberland, und Vorarlberg erstrahlt – um die Farbe von VdBs Ex-Partei zu entlehnen – förmlich in Grün: Nur seine 63,6 Prozent in Wien konnten das Ergebnis im Ländle (60,4 Prozent) toppen.
In Vorarlberg gelang Van der Bellen, was die Grünen als Partei nie schaffen: Auf breiter Front überzeugte er Wählerinnen und Wähler in Klein- und Kleinstgemeinden. Sogar in sehr konservativen Walserdörfern wie Blons, Fontanella oder Damüls erreichte der Ex-Grünen-Professor einen Stimmenanteil von 67 bis über 70 Prozent. Ob Großes Walsertal, Bregenzerwald, Kleinwalsertal: Bei Parteiwahlen ist hier üblicherweise die ÖVP erfolgreich, nur im Klostertal und in der Van-der-Bellen-Hochburg Lech am Arlberg machte sich bei der letzten Nationalratswahl ein Trend zu Neos bemerkbar. Anders tickt lediglich die dritte große Vorarlberger Tourismusregion: Das Montafon im Süden ist in Hofers Hand.
Verhöhnte Katholiken
Die Unterstützung zahlreicher VP-Bürgermeister und ein Personenkomitee, das weit in die Volkspartei reichte, halfen Van der Bellen – und bei frommen Wählern hat sich Hofer offenbar selbst ausgebremst. Sauer stieß Bewohnern konservativ-katholischer Dörfer Hofers Plakatbekenntnis „So wahr mir Gott helfe“auf. Walter Rauch, Bürgermeister von Dünserberg, sagt: „Da fühlen sich gläubige Menschen verhöhnt.“
Van der Bellen verdanke den „Westbonus“wohl auch dem Umstand, dass er aus dem Kaunertal in Tirol stammt, ergänzt Christoph Hofinger, Meinungsforscher vom Sora-Institut. Die schwarz- grünen Landesregierungen mögen abgefärbt haben, außerdem seien Tirol und Vorarlberg mit den EUNachbarn wirtschaftlich eng verflochten: Die Angst vor dem Öxit könnte Van der Bellen Stimmen eingebracht haben.
Abseits regionaler Besonderheiten sieht Hofinger aber ein entscheidendes Kriterium, das den Unterschied ausmache. Pessimismus habe sich als größter Treiber der Hofer-Wähler entpuppt, und diese Gefühlslage sei von Landregion zu Landregion nicht gleichmäßig verteilt: „Es gibt Gegenden, die steigern sich immer weiter in eine Negativstimmung hinein.“
Bobos und Drogendealer
Obersteiermark, Waldviertel Südburgenland, die steirische Grenzregion, weite Teile des „Pleitelandes“Kärnten: All diese Gebiete, wo Hofer reüssierte, waren im neuen Jahrtausend von Abwanderung betroffen – ein Unterschied zum ebenfalls ländlichen, aber Van der Bellen-affinen Mühlviertel. Auch die Arbeitslosigkeit liegt im oberösterreichischen Hochland nördlich der Donau grosso modo deutlich niedriger. Wenn aber die Jobsituation eine Rolle spielt – warum ist Van der Bellen dann in Wien oder Graz, wo die Arbeitslosigkeit am höchsten ist, so stark?
In den Städten wiegten andere Faktoren diesen Nachteil auf, sagt Hofinger und verweist auf die Bezirke entlang des Wiener Gürtels. Innerhalb der Verkehrsader, wo viele gut situierte Bobos leben, fuhr Van der Bellen seine absoluten Spitzenwerte jenseits des Kaunertales ein (siehe unten), aber auch in den alten Arbeiterbezirken außerhalb landete er weit jenseits der 60-Prozent-Marke. Der Ausländeranteil ist hoch, von sozialen Problemen sind diese Grätzel nicht verschont. So sorgten Drogendealer entlang des Gürtels wochenlang für Schlagzeilen.
Warum dennoch nicht Hofer? Hofinger erklärt das Phänomen damit, dass sich dort ein junges, gut gebildetes Publikum unter die angestammte Anrainerschaft mische, leere Geschäftslokale mit kreativen Projekten in Beschlag nehme und die Viertel zu „Epizentren des Optimismus“mache. Eine heile Welt sei das keineswegs, sagt der Politikforscher: „Doch es gibt das Gefühl, wir werden es schaffen.“