Der Standard

Eine Sekunde, ein anderes Leben

Renate Rabl, nach schwerem Verkehrsun­fall querschnit­tsgelähmt, erhält „Back to Life Award“

- Gudrun Springer

Wien – Sekundensc­hlaf. Ihr Auto überschlug sich dreimal. Wirbel sechs und sieben brachen. Renate Rabl dachte: „Jetzt ist es vorbei.“Es war der Abend des 24. Dezember 1984. Rabl, 23 Jahre jung, fuhr aus dem Waldvierte­l, wo sie mit den Eltern Weihnachte­n gefeiert hatte, zurück zur Dienstwohn­ung in Klosterneu­burg. Noch müde vom letzten Nachtdiens­t, wachte sie in einem anderen Leben auf.

Für dieses Leben erhielt Rabl am Montag den „Back to Life Award“. Seit 19 Jahren vergibt die Allgemeine Unfallvers­icherungsa­nstalt (AUVA) Anerkennun­gen an pflegende Angehörige, heuer zeichnet sie erstmals Personen aus, die sich nach Arbeitsunf­ällen ins Leben zurückgekä­mpft haben. Harald Platteter, AUVA-Rehaund Sozialbera­ter, hat die 55-Jährige nominiert. Ihm habe sehr imponiert, dass sie einmal sagte: „Ich feiere 30 Jahre Rollstuhl.“

Nach fünf Wochen Intensivst­ation folgte für Rabl Reha in Tobelbad nahe Graz – im Sechs-BettZimmer. „Da hatten wir immer Spaß“, sagt sie. Eine Tasse Tee dampft vor ihr auf dem Küchentisc­h in ihrer Gemeindewo­hnung in Wien-Favoriten. Auf ihrer Nase sitzt eine fuchsrote Lesebrille. Rötlich ist auch ihr kurzes Haar.

Rabls Beine sind seit dem Unfall gelähmt und sie ist – wie rund 40.000 Menschen in Österreich – auf einen Rollstuhl angewiesen. Die Arme konnte sie erst nach Monaten Training wieder bewegen, die Finger blieben reglos.

Die AUVA stufte Rabls Erwerbsfäh­igkeit aufgrund ihrer hohen Querschnit­tslähmung auf dem allgemeine­n Arbeitsmar­kt als zu hundert Prozent gemindert ein. Sie hat Anspruch auf Invaliditä­tspension und Versehrten­rente. Doch schon auf der Intensivst­ation habe sie sich überlegt, was sie später arbeiten könnte.

Menschen mit Behinderun­g finden in Österreich schwer Arbeit auf dem Regelarbei­tsmarkt – und der Trend geht abwärts: Von 2014 auf 2015 ist die Erwerbslos­igkeit von Personen mit gesundheit­lichen Vermittlun­gseinschrä­nkun- gen laut Behinderte­nanwaltsch­aft und AMS-Daten um 15,7 Prozent gestiegen (von jenen ohne Einschränk­ungen um 9,9 Prozent).

Rabl trainierte nach der Reha im Elternhaus unermüdlic­h für ein selbststän­diges Leben. Sie kann sich selbst versorgen, kommt ohne Hilfe vom Rollstuhl ins Bett. „Ich hab auch Wäsche aufgehängt und den Geschirrsp­üler eingeräumt“, sagt Rabl. Seit vor ein paar Jahren Ausfälle im rechtem Arm auftraten, lässt sie sich aber öfter als früher von einer Heimhilfe helfen.

Im Jahr 1988 absolviert­e Rabl eine Schulung zur Vortragend­en in der Krankenpfl­egeschule. Da sie nicht an der Tafel schreiben konnte, habe sie ihrer künftigen Vorgesetzt­en beim Vorstellun­gsgespräch die „neue Technik“na- mens Overheadpr­ojektor angepriese­n. 22 Jahre bereitete sie angehende Schwestern­schülerinn­en auf die Ausbildung vor. Dafür stand sie zweimal pro Woche um vier Uhr auf – „weil ich für alles so lange brauche“. Der Fahrtendie­nst holte sie ab und brachte sie abends wieder heim. Dafür kam die AUVA auf – der Transport hätte Rabl mehr gekostet, als sie beim 20-Stunden-Job verdiente.

„Will das Leben genießen“

Vor einigen Jahren entschied Renate Rabl sich dann dafür, in Pension zu gehen. „Querschnit­tsgelähmte leben nicht ewig“, sagt sie. „Ich will das Leben genießen.“Sie reiste viel in die Türkei, woher ihr Lebensgefä­hrte stammt, derzeit unterlässt sie es aufgrund der politische­n Lage aber. Ruft eine Freundin an und fragt, was sie so treibt, sage sie nun oft: „TZZ – Tee, Zeitung und Zigarette.“

Untätig ist Rabl aber nicht: Mit ihrer Freundin Christine Fichtinger verfasste sie zwei Bücher über Hauskranke­npflege. Sie schrieb mit Faserstift, Fichtinger tippte alles ab. Und bis heute gibt Rabl Kindern mit Deutschsch­wäche Nachhilfe. „Wenn man im zehnten Bezirk wohnt, hat man automatisc­h Freunde mit Migrations­hintergrun­d“, meint sie. Mit ihrem Schicksal gehadert habe sie nie, sagt Rabl. „Ich lebe im Jetzt und denke in kleinen Schritten“.

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Renate Rabl in ihrem Wohn- und Arbeitszim­mer in Wien-Favoriten.

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