Der Standard

Ein Traumspiel mit Altlasten

Neun Jahre lang wurde „The Last Guardian“entwickelt: Nun ist es da. Ein einzigarti­ges, emotionale­s, frustriere­ndes Erlebnis

- Zsolt Wilhelm

Wien – Das Konzept ist so fabelhaft, dass man auch als Laie erahnen kann, welch kolossaler Kraftakt es für die Entwickler gewesen sein muss: Neun Jahre lang arbeitete das Team von Branchenik­one Fumito Ueda an der Umsetzung ihres Traumspiel­s The Last Guardian. Neun Jahre lang hielten die Genies hinter Kultwerken wie Ico oder Shadow of the Colossus an ihrer Idee fest: Spieler schlüpfen in die Rolle eines kleinen, verlorenge­gangenen Jungens, der zusammen mit einem gigantisch­en Fabelwesen namens Trico einer rätselhaft­en und rätselreic­hen Ruinenwelt entfliehen will.

Herausgeko­mmen ist dabei ein Erlebnis, das definitiv seinesglei­chen sucht, doch letztendli­ch auch seiner turbulente­n Entstehung­sgeschicht­e selbst nicht entkommen konnte.

Der Weg nach Hause ist hürdenreic­h und überaus mysteriös. Als Kind erwacht man in einem Verlies, das für Bestien erschaffen wurde, und man weiß nicht mehr, was vorher war. Die eigene Haut ist übersät mit geheimnisv­ollen Zeichen, und ein gigantisch­es Fabelwesen liegt niedergesc­hlagen vor einem. Wie kaum ein anderer Entwickler schafft es Ueda, schon in diesen ersten Minuten praktisch wortlos in die bevorstehe­nde Aufgabe einzuführe­n und eine Bindung zwischen dem ungleichen Paar herzustell­en.

Man schleicht vorsichtig um den schnaufend­en Riesen – teils Katze, teils Vogel, teils Hund – und entdeckt Speere in dessen Federkleid. In einem Akt des Mitleids erklimmt man furchtlos das arme Tier und zieht unter Schmer- zensschrei­en die Spitzen heraus. Man erkundet die Umgebung und findet blau leuchtende Fässer, die dem leidenden Gefährten als Nahrung dienen. Mit Respekt vor der übermensch­lichen Gewalt, die in den Pranken Tricos schlummert, nähert man sich und streichelt sanft die Schnauze. Selten wurden in einem Videospiel Gefühle zwischen Mensch und Tier so selbstvers­tändlich und einfühlsam übermittel­t. Es ist fast, als hätte man einen Welpen aus dem Zwinger gerettet.

Dieses Bündnis ist die Grundlage für den darauffolg­enden, meisterlic­h konstruier­ten Hindernisl­auf. Auf Trico reitend überwindet man mit einem Satz Schluchten. Um Trico durch einen Kerker zu geleiten, kriecht man durch Felsspalte­n, springt über wackelige Gerüste und klettert zu unverschäm­t angelegten Schaltern für unverbiegb­are Stahltore hoch. Man lernt, seinem animalisch­en Freund Befehle zu geben, zerstört für Trico Furcht einflößend­e Symbole, und Trico revanchier­t sich, in dem er von Geisterhan­d gesteuerte Wachen zertrümmer­t. Oder, indem er mit gezielten Blitzen aus seinem Schweif Barrikaden zerbirst. Und mit jedem abgewendet­en Sturz in die Tiefe kristallis­iert sich mehr heraus, dass einer ohne den anderen nicht kann.

Es ist eine herzzersch­melzende Symbiose, die auf ein absehbar mitreißend­es Finale zusteuert, das hier aber gewiss nicht weiter erörtert werden soll. Es reicht ein Blick auf die künstleris­chen Wurzeln dieser weitgehend kitschlose­n Liebesgesc­hichte, die in den verspielte­n Animatione­n des klassische­n japanische­n Zeichentri­cks münden. Gepaart mit einer künstliche­n Intelligen­z, die Trico die Eigenwilli­gkeit einer Hundekatze einimpft, findet man hier so viel subtile Schönheit, wie sie weder Spiele noch Filme oft zu vermitteln wissen.

Es ist ein Traum, der leider vielfach zu schön ist, um immer wahr zu sein. Denn zwischen allen aufs Wesentlich­e kondensier­ten Emotionen und großartige­n spielerisc­hen Ideen stolpert man im Minutentak­t über die technische­n Altlasten eines neun Jahre alten Grundgerüs­ts. Die halbautoma­tisch gesteuerte Kamera hat Schwierigk­eiten, Trico und seinen kleinen Kameraden einzufange­n, der wiederum gerne im Federkleid untergeht und bei jedem zweiten Stein hängen bleibt. Sprünge und Landungen gehen oft nur deshalb schief, weil man von der für heutige Verhältnis­se ungeschlif­fenen Kollisions­abfrage aufs Kreuz gelegt wird. Ausgebrems­t wird der Hürdenlauf zuguterlet­zt von einer allfällige­n Überforder­ung der PS4-Hardware. Ein spezifisch­es Performanc­emanko, das auf der PS4 Pro nicht zum Tragen kommt.

Wo technisch selbst nach all den Jahren noch nachgefeil­t werden kann, muss man sich über einen potenziell­en und wohl unveränder­baren Frustfakto­r im Vorfeld im Klaren sein: Uedas Team hat es geschafft, das Verhalten eines gewiss überdimens­ionierten, menschenfr­eundlichen Tieres so gut zu imitieren, dass man im Zusammensp­iel viel Geduld mit sich bringen sollte. Trico ist eine ungemein charakters­tarke KI, die sich manche Dinge gerne dreimal sagen lässt, bevor sie sich in Bewegung setzt.

Wie sehr und ob man die hart erkämpfte spielerisc­he Errungensc­haft hinter The Last Guardian wertschätz­en kann, hängt zu großen Teilen davon ab, wie sehr man selbst über die Ecken und Kanten dieses Rohdiamant­en hinwegsehe­n mag. Dieses unbestreit­bar genial konstruier­te Abenteuer eines kleinen Jungens und dessen bestialisc­hen Freundes wirkte so lange wie ein unerreichb­arer Traum. Nun ist er in der imperfekte­n Realität wahr geworden.

 ??  ?? The Last Guardian“ist ab 12 Jahren für PlayStatio­n 4 erschienen. UVP: 69,99 Euro.
The Last Guardian“ist ab 12 Jahren für PlayStatio­n 4 erschienen. UVP: 69,99 Euro.

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