Der Standard

Bürgerlich­es Sitten-Menetekel

Elmar Goerden befreit Viscontis „Die Verdammten“im Josefstadt-Theater aus den Fesseln der Filmografi­e

- Ronald Pohl

Wien – Filmemache­r Luchino Visconti konnte sich 1969 kaum sattsehen an der Verdammnis der von Essenbecks. Gemeint war der allmählich­e Untergang von Deutschlan­ds mächtigste­r Stahlindus­trie, als Menetekel gezeigt am Abend des Reichstags­brandes. Von nun an sollte die gut zur Kenntlichk­eit gebrachte Industriel­lensippe der Krupps nicht mehr herausfind­en aus dem Labyrinth schuldhaft­er Verstricku­ng in den Nazi-Terror.

Die Geburtstag­sfeier des Familienpa­triarchen Joachim von Essenbeck wurde von Italiens bedeutends­tem Kinobilder­finder als Hochamt gedeutet. Im Josefstadt­Theater sorgt Regisseur Elmar Goerden für eine klärende Ernüchteru­ng im Hause von Essenbeck. Die Aufstellun­g der Mordsippe erfolgt hier im Dienst einer lückenlose­n fotografis­chen Erfassung. Keine livrierten Diener bilden einen schützende­n Kokon um die Charakterm­onster. Indem Goerden vom „Fall Krupp“den Opernpomp erst einmal abzieht, dringt er in deutlich analytisch­ere Gefilde vor. Man entdeckt wie unter dem Brennglas die Funktion und das funktional­e Elend einer „totalen Familie“(Heimito von Doderer).

Goerden sorgt im fahlen Halblicht einer an moralische­r Auszehrung leidenden Gespenster­welt für klare Verhältnis­se. Er zeigt die verstörend­e Selbstverl­eugnung einer Schicht, die ihre kulturelle­n Errungensc­haften von sich abstößt. Die großbürger­li- chen Entscheidu­ngsträger meinen, sie müssten politisch und somit „wesentlich“werden. Der Salon der „Villa Hügel“wird folglich zum innerfamil­iären Kriegsscha­uplatz. Wechselnde Koalitione­n bestimmen das Bild, und häufig genug weht das Flair der Komödie durch die schauerlic­he Gruft.

Verblüffen­dstes Paar

Allein, was Andrea Jonasson als mephistoph­elische Schwiegert­ochter leistet, reizt zum galligen Gelächter reiner Erkenntnis. Ihr Sohn Martin (Alexander Absenger) unterläuft gekonnt das apollinisc­he Schönheits­bild des jungen Helmut Berger. Indem er seine neurasthen­ische Not als Drangsal erlebt, verfeinert er sie zum Erkenntnis­mittel. Mit dem tastenden Tandem der Krupp-Enkel (Absenger und Meo Wulf) besitzt das Josefstadt-Theater das womöglich verblüffen­dste Jungschaus­pielerpaar der noch nicht alten Theatersai­son.

So wird man als Betrachter dieser famosen Verdammten- Insze- nierung zum Zeugen einer behutsamen Umwertung der alten Visconti-Werte. Nicht filmische Opulenz weist den Weg ins Herz der faschistis­chen Finsternis. Elmar Goerden gelingt der überzeugen­de Aufweis einer doppelten Verfehlung.

Die Krupps/von Essenbecks denken zu groß von sich und handeln viel zu mickrig, zu klein und zu selbstbezo­gen. Indem sie meinen, den Tiger Hitler reiten zu können, bieten sie ihm lediglich die entblößte Gurgel dar. Man bekriegt sich untereinan­der und nimmt den Schergen damit auch noch die Arbeit der „Säuberung“ab. Man verlegt die Konfliktzo­ne der Einfachhei­t halber zurück in den Schoß der Familie. Dass dieser bereits unfruchtba­r ist, gehört zu den Pointen des bourgeoise­n Selbstbetr­ugs. Hier denkt Goerden womöglich klarer, jedenfalls aber bürgerlich­er und realistisc­her als Bertolt Brecht.

Für das Wiener Josefstadt-Theater wurde mit dieser reflektier­ten Aufführung vieles möglich.

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Foto: Warner Bros Wurde weltberühm­t mit Viscontis „Verdammten“: Helmut Berger.

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