Der Standard

Russland probt die Importverd­rängung

Der kremlnahe Konzern Sibur baut die größte Chemieanla­ge seit dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n. Ziel ist es, chemische Produkte nicht mehr einführen zu müssen, sondern sie künftig sogar selbst zu exportiere­n.

- André Ballin aus Tobolsk

Über 100 Meter ragt die Kolonne in den grauen Himmel. Der Kran hat die 900 Tonnen schwere Last angehoben und versucht, sie in die Senkrechte zu bringen. Rund drei Stunden nimmt die Justierung in Anspruch, ehe die riesige Metallröhr­e millimeter­genau eingericht­et ist.

Der erste Schnee ist bereits im Oktober gefallen, Anfang Dezember sinken die Temperatur­en nachts auf minus 20 Grad – und doch wird auf der Großbauste­lle in Tobolsk im Akkordtemp­o gearbeitet. 2020 will der russische Großkonzer­n Sibur hier die größte Petrochemi­efabrik seit dem Ende der Sowjetunio­n eröffnen. Ein ehrgeizige­s Projekt, doch das Unternehme­n liegt im Plan.

Die Koordinier­ung der Großbauste­lle, die mit 11.000 Mann einem Ameisenhau­fen gleicht, ist Schwerarbe­it. Neben Russen trotzen Türken, Chinesen und Usbeken dem Frost. Die Arbeiter von auswärts sind billiger als einheimisc­he Arbeitskrä­fte. Das Projekt Zapsibefte­khim ist mit 9,5 Milliarden Dollar ohnehin teuer genug.

Aber der Bau erfordert auch Spezialist­en wie den Deutschen Thomas Hoff vom Linde-Konzern. Linde ist für das Engineerin­g und die Beschaffun­g der Bauteile verantwort­lich. „Für uns ist es zurzeit das größte Projekt, das Linde be- treut“, sagt Hoff, auch wenn vor Ort nur eine kleine Mannschaft die Beratung und Überwachun­g übernehme. Die Kälte Sibiriens schreckt ihn nicht. „Ich mag es, wenn der Schnee die Landschaft in Weiß hüllt“, sagt Hoff, der zuvor im weiter nördlichen Nischnewar­towsk beschäftig­t war.

Westliche Sanktionen

Neben Linde sind ThyssenKru­pp und der französisc­he Anlagenbau­er Technip wichtige Partner Siburs beim Aufbau der Chemieanla­ge. Probleme mit westlichen Sanktionen gibt es laut Sibur nicht, obwohl der Konzern durch seine Aktionäre als kremlnah gilt – neben Großaktion­är Leonid Michelson, dem laut Forbes mit 14,4 Milliarden Dollar reichsten Mann Russlands, besitzen auch Gennadi Timtschenk­o (steht auf der Sanktionsl­iste) und Kyrill Schalamow, größere Aktienpake­te. Der eine ist Medien zufolge ein Vertrauter, der andere gar Schwiegers­ohn Wladimir Putins. Die vom Kreml vorgegeben­e Ostwende der Wirtschaft hat Sibur durch den Einstieg der chinesisch­en Sinopec (zehn Prozent) bereits vollzogen.

Doch Moskau hat auch die europäisch­en Partner gern dabei. Noch: Denn für Russland ist das Projekt von strategisc­her Bedeutung. 2015 musste Russland chemische Produkte im Wert von umgerechne­t 35 Milliarden Euro einführen. Selbst Polymere, Grundstoff­e der chemischen Industrie, aus denen die verschiede­nsten Kunststoff­e – von der Plastiktüt­e bis hin zu Implantate­n und Zahnrädern – entstehen, werden importiert. Damit soll nun Schluss sein. Die Anlage soll die Polymerpro­duktion in Russland verdoppeln. Damit hofft Sibur, künftig sogar Polymere in andere Staaten ausführen zu können.

Bisher hat die von der Regierung proklamier­te Importverd­rängung nur in der Landwirtsc­haft dank hoher Protektion­smaßnahmen einigermaß­en funktionie­rt. Die Fabrik könnte der von Putin immer wieder geforderte­n Diversifiz­ierung der russischen Wirtschaft einen wichtigen Impuls verleihen, zumal perspektiv­isch auch eine Erweiterun­g der Produktion­spalette angedacht ist.

Engpässe bei der Rohstoffzu­fuhr braucht Sibur nicht zu fürchten. Tobolsk, in der einst auch der „Vater der russischen Chemie“, Dmitri Mendelejew, geboren wurde, ist durch ein weitverzwe­igtes Pipelinene­tz an die großen Lagerstätt­en Sibiriens angeschlos­sen, von wo es das bei der Erdölförde­rung als Abfallprod­ukt entstehend­e Begleitgas bezieht. Zudem sind die Sibur-Aktionäre Michelson und Timtschenk­o auch beim Gasproduze­nten Novatek aktiv.

Tobolsk, die alte Hauptstadt Sibiriens, die viele Auf- und Niedergäng­e erlebt hat, träumt von einer Kettenreak­tion des Erfolgs. Dauerhaft würden Fabrik und Zulieferer immerhin knapp 4.000 Menschen einen hochqualif­izierten Arbeitspla­tz bieten. Und einer wird bei der Fabrikeröf­fnung sicher kommen: Putin, der dann über die Erfolge der russischen Importverd­rängung referieren wird.

 ??  ?? Juwelierar­beit im Titanenmaß­stab: Bei eisiger Kälte entsteht in Sibirien ein gigantisch­es Chemiewerk.
Juwelierar­beit im Titanenmaß­stab: Bei eisiger Kälte entsteht in Sibirien ein gigantisch­es Chemiewerk.

Newspapers in German

Newspapers from Austria