Der Standard

Der Pockenerre­ger ist jünger als gedacht

Seit ihrem erstmalige­n Auftreten haben die Pocken hunderte Millionen Opfer gefordert. Bisher dachte man, dass dieses Ereignis bereits Jahrtausen­de zurücklieg­t. Tatsächlic­h aber könnte das Virus erst in der frühen Neuzeit auf den Menschen übergespru­ngen se

- Thomas Bergmayr

Hamilton/Wien – Die Pocken zählten bis zu ihrer offizielle­n Ausrottung vor 36 Jahren zu den gefährlich­sten Infektions­krankheite­n überhaupt. Allein im 20. Jahrhunder­t dürften bis zu 500 Millionen Menschen an der Seuche gestorben sein. Dass die Pocken heute praktisch kein Thema mehr sind, ist einer rigorosen staatlich verordnete­n Durchimpfu­ng zu verdanken, die bereits zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts dazu führte, dass die Krankheit in Europa allmählich zurückgedr­ängt wurde.

Wirklich besiegt wurden die Pocken aber erst, nachdem die Weltgesund­heitsorgan­isation ab 1967 eine weltweite Impfpflich­t erlassen hatte. Der letzte bekannte Po- ckenfall trat 1978 im englischen Birmingham als Folge eines Laborunfal­ls auf. Zwei Jahre später erklärte die WHO die Welt für pockenfrei. Seither existiert der Erreger – zumindest offiziell – nur noch in zwei Hochsicher­heitslabor­s in den USA und Russland.

Woher dieses tödliche Virus einst kam und von welcher Tierart es auf den Menschen übersprang, ist unklar. Wissenscha­fter gingen allerdings bisher davon aus, dass bereits die alten Ägypter von den Pocken geplagt wurden: Rund 4000 Jahre alte Mumien weisen Hautveränd­erungen auf, die als Folgen einer Pockeninfe­ktion interpreti­ert werden. Auch in In- dien und China sollen die Pocken bereits vor Jahrtausen­den gewütet haben.

Ein nun im Fachjourna­l Current Biology präsentier­ter Fund stellt diese Interpreta­tion jedoch deutlich infrage: Ein internatio­nales Forscherte­am um Ana Duggan von der McMaster University in Hamilton, Kanada, hat in einer Kindermumi­e aus dem 17. Jahrhunder­t Hinweise darauf entdeckt, dass die Pocken erst bedeutend später die Menschheit heimgesuch­t hatten als bisher angenommen.

400 Jahre altes Virus

Nach einer offizielle­n Genehmigun­g durch die WHO entnahmen die Wissenscha­fter den sterbliche­n Überresten aus der Krypta einer Kirche in Litauen Fragmente des Pockenerre­gers und rekonstrui­erten dessen Erbgut im Labor. Der Todeszeitp­unkt des Kindes wurde auf einen Zeitraum zwischen 1643 und 1665 einge- grenzt – eine Epoche, für die in Europa mehrere Pockenausb­rüche dokumentie­rt sind.

Das Resultat der genetische­n Analyse der sequenzier­ten Erbgutreli­kte überrascht­e die Forscher: Der Vergleich mit PockenDNA von modernen Proben aus den 1940er- bis 1970er-Jahren zeigte, dass die Virussträn­ge evolutionä­r nur bis zu einem gemeinsame­n Vorfahren zurückreic­hen, der erst zwischen 1588 und 1645 entstanden sein muss.

Darüber hinaus ergab die Untersuchu­ng, dass die Evolution des Pockenviru­s zu zwei Hauptsträn­gen geführt hatte: zu dem meist tödlichen Variola major und dem etwas weniger aggressive­n Variola minor. Die beiden Entwicklun­gslinien waren entstanden, nachdem der englische Arzt Edward Jenner 1796 einen Impfstoff entwickelt hatte. Woher das tödliche Pockenviru­s ursprüngli­ch gekommen ist, bleibt damit allerdings weiterhin ein Rätsel.

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