Die sichtbare Hand
Dank einer EU-Richtlinie gesellt sich demnächst zur Finanzbilanz auch eine Ethikbilanz – oder wird jener sogar vorangestellt, damit die freie Marktwirtschaft endlich tatsächlich auch „zum Wohle aller“wirkt.
Adam Smith hatte einen Traum: dass private Unternehmen und freie Märkte am Ende des Tages zum Wohl der Allgemeinheit wirken. In seinem 800-Seiten-Werk Der Wohlstand der Nationen hat er dieser Hoffnung an einer Stelle einen berühmten Namen gegeben: Die „unsichtbare Hand“ist die Gemeinwohlbeauftragte in Smiths Ideenwelt. Leider hat sich inzwischen – in Zeiten multipler Krisen überdeutlich – herausgestellt, dass die unsichtbare Hand nicht wirksam ist – weil sie nicht existiert: Die „invisible hand“ist ein Mythos.
Solange dieser Mechanismus, der sicherstellt, dass unternehmerischer und gesellschaftlicher Erfolg Hand in Hand gehen, nicht eingerichtet wird, werden juristische Personen beides tun: Nationen und Gesellschaften reicher und ärmer machen. Unternehmen können Beschäftigung schaffen, Steuern leisten und sinnvolle Innovationen entwickeln. Ebenso können sie Arbeitskräfte ausbeuten, Ökosysteme zerstören, Finanzkrisen auslösen und die Demokratie untergraben. Das Problem ist, dass beide Typen von Unternehmen profitabel und damit erfolgreich sein können. Die „Sozialpflicht“des Eigentums ist nicht effektiv in die realexistierende Wirtschaftsordnung eingebaut.
In einem intelligenten Wirtschaftssystem wären nur solche Unternehmen rentabel und erfolgreich, die verlässlich zum „Wealth of Nations“beitragen und nicht zu deren „Misery“. Wenn eine freie Gesellschaft dies ernsthaft wünscht, muss sie die Märkte entsprechend regulieren und die Sozialpflicht des Eigentums in konkrete Gesetze gießen. Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von der Überzeugung der Regierungen der Mitgliedsstaaten und der EUKommission, dass der Rechtsschutz von Privateigentum verschärft werden, die Sozialpflicht des Eigentums jedoch freiwillig bleiben müsse: „CSR“war primär ein Instrument für Greenwashing. Hier gibt es nun eine winzige Wende. Demnächst wird das Parlament die nationale Umsetzung der EU-Richtlinie über nichtfinanzielle Berichterstattung behandeln, welche Unternehmen über die obligatorische Finanzberichterstattung hinaus verpflichtet, auch ethische Informationen zu den Themenbereichen Menschenrechte, Arbeitsrechte, Umweltschutz, Diversität und Antikorruption zu veröffentlichen. In Österreichisch heißt der Wurf „Nachhaltigkeitsund Diversitätsverbesserungsgesetz (NaDiVeG)“.
Die EU-Richtlinie stellt CSR auf eine gesetzliche Grundlage – immerhin. Doch leider wird aller Voraussicht nach die große Chance versäumt, das neue Gesetz mit Wirkung auszustatten. Die gewählte Größenschwelle von 500 Beschäftigten führt dazu, dass von rund 400.000 Unternehmen in Österreich nur rund 200 betroffen sein werden. Für eine legalistische Farce spricht auch, dass die ethischen Informationen nicht Teil des Lageberichts sein müssen, dass diese Informationen nicht geprüft werden (es muss nur geprüft werden, ob ein Bericht erstellt wurde) und dass die ethischen Leistungen der Unternehmen keinerlei Rechtsfolgen haben. Heißt im Klartext: Die Lohn- und Preisdrücker, Kostenminimierer und Externalisierer werden weiterhin mit den verantwortungsvollen Gemeinwohl-Mehrern „gleich behandelt“. Dabei wären rechtliche Anreize – von Steuern über Zölle und Kredite bis zum Vorrang im öffentlichen Einkauf – für achtsame und nachhaltige Unternehmen nur der gerechte Ausgleich eines strukturellen Wettbewerbsnachteils, der ihnen daraus erwächst, dass sie höhere Rücksichten nehmen und damit höhere Kosten und Preise haben. Zur Hinführung auf Rechtsfolgen wäre es auch sinnvoll, dass die Unternehmen anhand konkreter Standards berichten müssen, zum Beispiel: GRI, Deutscher Nachhaltigkeitskodex, ISO 26000 oder Gemeinwohlbilanz. Diese könnten taxativ im Gesetz aufscheinen – und die besten von ihnen in den nächsten Jahren zu einem einheitlichen Rechtsstandard verschmolzen werden, nach strategischen Zielvorgaben wie zum Beispiel: Ganzheitlichkeit, Messbarkeit, Vergleichbarkeit oder demokratische Genese.
Die nationalen Justizminister scheinen sich jedoch trotz wiederholter Hinweise zu weigern, eine solch klare Strategie auch nur anzusinnen. Kleines Trostpflaster: Bei der Anhörung im Deutschen Bundestag, an dem ich als einer von sieben Experten teilnahm, bildete sich ein Konsens in Richtung Gleichstellung finanzieller und ethischer Leistungsindikatoren. Bei genauerer Betrachtung sind Erstere für die Gesellschaft wichtiger, weil sie sich auf die Erfüllung demokratischer Grundwerte beziehen. Geld ist dagegen nur ein Mittel. Kurios ist deshalb die Diskrepanz, dass der Gesetzgeber die Berichterstattung zu finanziellen (Mittel-)Indikatoren früher und strenger reguliert hat als zu ethischen (Ziel-)Indikatoren. Genau das könnte und sollte sich in Zukunft ändern: Die Berichts- und Publizitätspflicht sollte für ethische und finanzielle Leistungsindikatoren gleichermaßen gelten. Beide sollen gleich streng geprüft werden, und das Testat soll Rechtsfolgen haben: vom Anreiz bis zum negativen Endpunkt der finanziellen oder ethischen Insolvenz.
Perspektivisch könnte die Ausbildung der Wirtschaftsprüfenden eine ganzheitliche werden, damit sie in Zukunft den gesamten Unternehmenserfolg prüfen können: Zielerfolg (Ethikbilanz) und Mittelerfolg (Finanzbilanz). Dann würde eine prominente Lücke im Wirtschaftssystem – die einseitige Ausrichtung der Erfolgsmessung auf die Mittel – geschlossen. Adam Smiths Traum könnte mit der Schaffung einer sichtbaren Hand – einer verpflichtenden Ethikbilanz mit Rechtsfolgen – endlich in Erfüllung gehen.
CHRISTIAN FELBER ist WU-Lektor und Initiator der Gemeinwohl-Ökonomie.