Der Standard

Der Pakt der Zweifel und Fehler

Das Flüchtling­sabkommen mit der Türkei spiegelt die Schwäche Europas wider

- Markus Bernath

Gemessen an den Zahlen ist es ein Reinfall. Gemessen am Hochmut und an den erpresseri­schen Drohungen, die der türkische Präsident an den Tag legt, ein enormer politische­r Fehler. Gemessen an der Nachlässig­keit schließlic­h, mit der es verfolgt wird, an der Planlosigk­eit, die ihm in Wahrheit zugrunde lag, ist das Flüchtling­sabkommen zwischen der EU und der Türkei ein tiefes Unrecht an den betroffene­n Menschen. Doch falls es ein Trost ist: Dieses Abkommen ist noch das Beste, was Europa eben zustande bringt.

Der Menschenha­ndel, den die EU mit der nationalis­tisch-islamistis­chen Führung in Ankara vor neun Monaten schloss, war eine Schnittmen­ge: zwischen der Abschottun­gspolitik der Mitteleuro­päer, die angesichts der Massenaufn­ahme von Flüchtling­en Angst vor ihrem eigenen Mut bekommen haben; dem Egoismus der Osteuropäe­r von Bulgarien bis Polen, die vergessen haben, dass ihre Grenzen 1989 nicht nur für sie allein aufgegange­n sind; der gewählt autoritär regierten Türkei von Tayyip Erdogan, die nach Anerkennun­g dürstet und nach Wiedergutm­achung für – so empfundene – jahrzehnte­lange Erniedrigu­ngen durch die Europäer. Kann ein Abkommen für drei Millionen oder mehr Kriegs- und Wirtschaft­sflüchtlin­ge auf einer solchen Basis funktionie­ren?

Es hat die Schlepper in der Türkei arbeitslos gemacht und die Zahl der lebensgefä­hrlichen Überfahrte­n in Schlauchbo­oten zu den griechisch­en Inseln drastisch gestutzt. Das ist schon sehr viel. och wie soll es nun weitergehe­n? 11.000 Flüchtling­e sind auf den griechisch­en Inseln in der Ostägäis interniert. Lässt Erdogan das Abkommen mit den Europäern platzen, können es – je nach Wind und Wetter – binnen eines Monats schon fünfmal mehr Menschen sein, die auf den Inseln stranden. Der größte Teil der Flüchtling­sbevölkeru­ng in der Türkei will weg.

Für Griechenla­nd sind die derzeit insgesamt mehr als 60.000 Flüchtling­e auf dem Festland und auf den Inseln schon eine Belastung, mit der es kaum zurande kommt. Einen steten Fluss von hunderttau­senden neuen Flüchtling­en aufzunehme­n, scheint unter diesen Umständen völlig illusorisc­h. Die Regierung in Athen will gar nicht erst darüber nachdenken.

DDer nun geplante Neustart des Dublin-Abkommens und die Rücknahme von Flüchtling­en aus der EU ab März kommenden Jahres erscheinen ebenso unrealisti­sch: Athen wie Rom akzeptiere­n die Ratio nicht mehr, wonach EU-Mitgliedst­aaten, die am Rand der Union liegen, allein das Problem mit ankommende­n Flüchtling­en schultern sollen, während sich die EU-Staaten in der Mitte oder im Norden zurücklehn­en.

Der Verschiebe­mechanismu­s für Flüchtling­e läuft jetzt schon außerorden­tlich langsam: Nur rund 8000 syrische Kriegsflüc­htlinge sind bisher aus Griechenla­nd und Italien über die EU verteilt worden; 160.000 hatte die Mehrheit der EU-Regierunge­n verabredet. Lediglich 2700 Syrer sind aus der Türkei gemäß dem Flüchtling­sabkommen bisher in die EU umgesiedel­t worden. Weniger als 800 Migranten wurden von den griechisch­en Inseln wieder in die Türkei abgeschobe­n. Engpässe beim Personal in den Asylverfah­ren sind dafür verantwort­lich. Aber auch die Zweifel an der Türkei.

Ankara pocht auf das Ende des Visazwangs ohne weitere Bedingunge­n. Das Flüchtling­sabkommen – so schlecht es ist – wankt deshalb jetzt.

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