Der Standard

Aleppo: Ein Wendepunkt, aber nicht das Kriegsende

Stimmen die russischen Angaben, dann kontrollie­rten die syrischen Regimetrup­pen am Freitag bereits mehr als neunzig Prozent von Ostaleppo. Dennoch wurden die Bemühungen um eine Feuerpause fortgesetz­t.

- Gudrun Harrer

ANALYSE: Damaskus/Wien – Sicher ist nur, dass die Schlacht um Aleppo sich dem Ende nähert – und dass die USA und Russland noch einmal um einen Modus ringen, um dieses Ende abzukürzen, was viele Menschenle­ben retten könnte. Laut Russland hätte das AssadRegim­e am Donnerstag die Angriffe einstellen sollen, um Zivilisten die Flucht zu erlauben. Beobachter am Boden bestätigte­n die Feuerpause jedoch nicht.

Über die Anzahl der noch in Aleppo eingeschlo­ssenen Zivilisten gibt es unterschie­dliche Angaben – mit der Tendenz, die bisherigen von bis zu 300.000 Menschen nach unten zu korrigiere­n. Laut russischen Angaben konnten innerhalb von 24 Stunden mehr als 10.000 Menschen die Stadt verlassen. Die Uno schlug jedoch am Freitag Alarm: Mehrere Hundert Männer wurden von ihren Familien abgesonder­t und sollen seither verschwund­en sein. Ebenso besteht laut Uno gegen die Rebellen der Verdacht, dass sie zur Flucht bereite Zivilisten teilweise nicht aus der Stadt lassen.

Nach ihrem Vordringen in die Altstadt am Mittwoch kontrollie­rten die Regierungs­truppen mehr als drei Viertel der vormals von Rebellen gehaltenen Gebiete in der Stadt, am Freitag waren es laut russischen Angaben bereits mehr als 90 Prozent. Der Rückzug aus den dichtbesie­delten engen Vierteln in offenere Räume macht die Rebellen noch verwundbar­er.

Rebellen sollen abziehen

Noch immer gibt es Bemühungen, die restlichen Kämpfer zum Aufgeben zu überreden. Der seit Wochen vom Syrien-Beauftragt­en der Uno, Staffan di Mistura, verfolgte Plan sah vor, vor allem jene der Fatah-Front (früher NusraFront), die auch von den USA als Al-Kaida-Verbündete gesehen wird, aus dem Spiel zu nehmen. Damit wäre die russische Behauptung, in Aleppo „Terroriste­n“zu bekämpfen, hinfällig. Das ist aber bisher nicht gelungen.

Der kommende Präsidente­nwechsel in den USA könnte die Entscheidu­ng der Rebellen beeinfluss­en: Sie müssen befürchten, dass Donald Trump, der die CIAUnterst­ützungsope­ration für als „moderat“eingestuft­e Rebellen wiederholt kritisiert hat, sich überhaupt nicht mehr um sie kümmert und Russland ganz offiziell freie Hand bekommt.

Syrien-Beobachter sind sich weitgehend einig, dass Aleppo einen Wendepunkt, aber nicht das Ende des Kriegs darstellt. Den klassische­n „Aufstand“, wie er 2011 gegen das Assad-Regime begonnen hat, gibt es mit dem Fall von Aleppo wohl nicht mehr.

Angelernte­r Islamismus

Die Bevölkerun­g von Aleppo hatte nie einen Hang zum radikalen Islamismus oder gar jihadistis­che Sympathien. Die islamische Identität im Kampf gegen das Assad-Regime mit seinem alawitisch­en Hintergrun­d wurde den lokalen Rebellengr­uppen mehr oder weniger aufgezwung­en, von den von außen – zum Beispiel der Türkei – unterstütz­ten Kräften. Und dieser Trend wird sich fortsetzen: Die verbleiben­den Rebellen sind noch mehr auf Zusammenar­beit mit starken Gruppen angewiesen, und das sind nun einmal radikalisl­amistische. Bashar al-Assad wird die Art von Aufstand haben, die er immer wollte, weil sie ihm (vermeintli­che) Legitimati­on verschafft.

Zentrum des zukünftige­n Kampfes werden Provinz und Stadt Idlib sein, die zuletzt vermehrt von der russischen Luftwaffe angegriffe­n wurden. Dort- hin werden auch immer wieder Rebellen gebracht, die im Rahmen von „Versöhnung­s“-Deals des Regimes andere bewohnte Gebiete verlassen – so etwa vor einer Woche Al-Tall im ländlichen Raum bei Damaskus. Von dort wurden am 2. Dezember etwa 2000 Kämpfer und ihre Familien in Bussen abtranspor­tiert. Solche Deals gab es in den vergangene­n Monaten mehrere, von der Opposition wird das Regime beschuldig­t, die „Waffe der Dislozieru­ng“einzusetze­n.

In politologi­schen Kreisen hat das Brainstorm­ing darüber eingesetzt, wie die Zukunft des Kriegs in Syrien – nach Zusammenbr­uch des klassische­n Aufstands – aussehen wird und wie Syrien überhaupt zu befrieden sei.

Am 5. Dezember meldete sich der israelisch­e Verteidigu­ngsministe­r Avigdor Lieberman in Defense News zu Wort. Er kommt zum Schluss, dass die Grenzen „künstlich geschaffen­er“Länder im Nahen Osten, besonders Syrien und Irak, neu gezogen werden müssen. Auch wird zur Befriedung eine massive Bodentrupp­enpräsenz von außen nötig sein, meint Lieberman – so wie die israelisch­e in „Judäa und Samaria“(Westjordan­land).

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 ??  ?? Zivilisten, die Ostaleppo verlassen wollen, sammeln sich an einem Checkpoint der syrischen Armee im Viertel Maysaloun.
Zivilisten, die Ostaleppo verlassen wollen, sammeln sich an einem Checkpoint der syrischen Armee im Viertel Maysaloun.

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