Blut: In liquiden Netzwerken fischen
Leukämie, Myelom und Lymphome: Erkrankungen der Blutzellen stellen Forscher vor viele Herausforderungen – auf der größten Hämatologenkonferenz ASH wurden die Potenziale und Grenzen neuer Therapien diskutiert.
Der menschliche Organismus ist eine unglaubliche Maschine. Manchmal braucht es Zahlen, um es sich ins Bewusstsein zu rufen. Einer der produktivsten Orte im menschlichen Körper ist das Knochenmark. Täglich werden dort über 600 Milliarden Blutzellen hergestellt, „das sind mehr Zellen, als es Sterne in einer Galaxie gibt“, beginnt David Scadden, Leiter des größten Stammzelllabors in Harvard, seinen Vortrag über das Knochenmark. Er spricht im riesigen Plenarsaal vor tausenden Zuhörern auf der wichtigsten Hämatologie-Konferenz ASH, die vergangenes Wochenende in San Diego über die Bühne ging.
28.000 Teilnehmende, ein Mix aus Grundlagenforschern, Wissenschaftern und Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen und Vertretern der pharmazeutischen Industrie, sind nach San Diego gekommen, um sich sechs Tage lang über die neuesten Erkenntnisse zu Erkrankungen der Blutbildung auszutauschen: Konkret geht es um Gerinnungsstörungen und die Krebserkrankungen, die von den unterschiedlichen Blutzellen ausgehen können.
Stammzellen als Verbände
So viel vorneweg: Blutbildung ist ein hochdifferenzierter Prozess, verläuft in Stadien und verändert sich im Laufe eines Lebens. Die These des Grundlagenforschers Scadden: Die blutbildenden Stammzellen sind keine getrennten Entitäten, sondern Zellverbände, die in Nischen leben und extrem anpassungsfähig sind. Es sind die Zellkonstellationen, die Erkrankungen verursachen können. Blut, Knochen, Nerven – alles hängt viel unmittelbarer zusammen als bisher vermutet.
Dabei hat die Genomforschung alles noch wesentlich komplizierter gemacht. „Wir überblicken nur einen kleinen Teil des Genoms, ganz wenige Stellen, bei denen wir davon ausgehen, dass sie Hotspots für hämatologische Erkrankungen sind, weil dort viele Mutationen auftreten“, sagt Marc Rubin, Onkologe und Pathologe am Weill Cornell Medical College in New York. Im Bauplan des Menschen gibt es viele Variablen, das Genom ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich, erlaubt eine Vielzahl von Mutationen: „Wir sind dabei, herausfinden, welche Mutationen tatsächlich auch zu einer Erkrankung führen. Nicht jede Mutation ist von Bedeutung“, sagt Rubin. Die entscheidende Frage: Kann man Therapien entwickeln?
Und da gab es Erfolgsmeldungen. So gehen die Forscher davon aus, dass die Sichelzellenanämie und bestimmte Formen von Hämophilie (Bluterkrankheit) mit Gentherapien in den Griff zu bekommen sein werden. Aufsehen erregte die neue Immuntherapie mit CAR-T-Zellen, gentechnologisch aufgerüstete Abwehrzellen zur Krebsbekämpfung. Eine Studie an Patienten mit Non-Hodgkin-Lymphomen zeigte eindeutige Wirksamkeit.
In Anbetracht dessen, dass Erkrankungen wahrscheinlich von unterschiedlichen Mutationen ausgehen, müssten sich aber auch die Studiendesigns verändern, sagt Ross Levine vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center. Genau das passiert im Fall der Akuten Myeloischen Leukämie (AML). Unter dem Überbegriff AML verbergen sich, so der Forscher, wahrscheinlich 15 bis 20 unterschiedliche Varianten. In der BEATAML-Studie werden abhängig von dem genetischen Profil eines Patienten (eine Genomsequenzierung erfolgt in sieben Tagen!) zwischen sieben und zehn Wirkstoffe parallel getestet. Je nach Wirkung können Studienarme kurzfristig geschlossen oder geöffnet werden. Das Ziel: „Die richtige Therapie in einer möglichst kurzen Zeit zu finden“, fasst Levine die Herausfor- derung zusammen. Denn das bisherige Studiendesign sei in Anbetracht der komplexen Ausgangssituation zu schwerfällig.
Große Fortschritte gibt es seit einem Jahr bei der Behandlung des Multiplen Myeloms, für das im letzten Jahr eine Reihe neuer Medikamente zugelassen wurden. Sie werden in zirka 200 unterschiedlichen Studien gerade miteinander verglichen. „Ein Kriterium in den USA ist es, Krankenhausaufenthalte zu vermeiden oder so kurz wie möglich zu gestalten, dementsprechend werden auch Medikamente entwickelt, die ambulant einsetzbar sind“, sagt der österreichische Onkologe Heinz Ludwig, Leiter des Wilhelminen-Krebsforschungsinstituts.
Minutiöse Arbeit
Medizinischer Erkenntnisgewinn ist minutiöse Arbeit: Davon kann man sich in der Postersession auf der ASH überzeugen. In einem Raum, der größer ist als ein Fußballfeld, präsentieren Wissenschafter ihre Studienergebnisse. Tausende Plakate hängen hier fein säuberlich in Krankheitsbilder geordnet. Auch österreichische Forscher sind da. Wolfgang Sperr von der Med-Uni Wien präsentierte seine Ergebnisse zur Intensivchemotherapie bei älteren AML-Patienten, Klaus Geissler vom Krankenhaus Hietzing seine Biodatenbank für Chronischer Myelozytischer Leukämie (CMML).
„Komplex“war übrigens das am meisten benutzte Wort dieser ASH. Zur Erinnerung: Das Knochenmark produziert 600 Milliarden Zellen täglich.