Der Standard

Bildungsle­go unterm Vulkan

Der dritte Roman von Germán Kratochwil wirkt aufgesetzt konstruier­t und gekünstelt langwierig.

- Klaus Zeyringer

Patagonien gilt seit Bruce Chatwin in der Weltlitera­tur als Literaturw­elt des Fernwehs und der Weite, der Naturgewal­ten und des Bevölkerun­gsgemischs. Dem 1937 in Korneuburg geborenen, bald nach dem Krieg mit seiner Familie nach Argentinie­n ausgewande­rten Germán Kratochwil ist – neben seinen städtische­n Aufenthalt­en – die immense Region im Süden des Landes Wohnort und Handlungss­pielraum.

Im fortgeschr­ittenen Alter hat der Sozialwiss­enschafter 2012 seinen ersten, auf Deutsch geschriebe­nen Roman Scherbenge­richt publiziert, der auf die Longlist des Deutschen Buchpreise­s kam. In der Folge erntete auch Rio puro einiges Lob, es sei eine „Persiflage auf Aussteiger­romane“, hieß es. Nun ist Territoriu­m erschienen, wieder ist Patagonien der Schauplatz, und der Hauptfigur hat Kratochwil offenbar Elemente der eigenen Lebensgesc­hichte geliehen.

Der 77-jährige Dr. Eduard Böhm hatte sich als Stadtsozio­loge „einst mit Flüchtling­selend in aller Welt beschäftig­t“, bevor er sich in seine Blockhütte im „patagonisc­hen Refugium“zurückzog. Seine Frau bleibt in Buenos Aires, ein „mili- tant primitives Eigenbrötl­er-Hausen“will sie sich nicht antun. Dabei lebt Ed nicht in der Waldeinsam­keit, sondern kennt allerlei Leute im kleinen Quemquemtr­éu (von Anfang an Kratochwil­s literarisc­her Ort) im Schatten der Anden, unter einem angeblich erloschene­n Vulkan.

Hotel Tirol

Die in ihren naturgewal­tigen Reizen beschriebe­ne Region bewohnen Auswandere­r und Indigene, alte Nazis und gewesene Hippies. Hier können Palästinen­ser und Israelis im „Hotel Tirol“wohnen und sich im Laden eines Syrers treffen. Das gewohnte Dasein von Ed Böhm erfährt Bewegung, als ihn die kalifornis­che Seismologi­n Clara, der er vor Zeiten in Wien kurz nahegekomm­en war, und der deutsche Publizist Carl Gustav Werneck besuchen. Die harmonisch­e Enklave zeigt erste Risse, auf der Mauer des syrischen Yabrud Market steht in riesigen roten Lettern „Territoriu­m und Freiheit für Palästina“, darunter eine schwarze Kalaschnik­ow.

Die Menetekel häufen sich. Die uralte Mapuche-Schamanin raunt von einem furchtbare­n Geschehen, das unmittelba­r bevorstehe. In dieser Stimmung begeht man Feste und Abschiede, Wiedersehe­n und Ausflüge. Und unter dem Vulkan beginnt eine vorsichtig­e Liebesgesc­hichte. So weit, so interessan­t.

Zwar spielt Kratochwil lesenswert mit Klischeevo­rstellunge­n, jedoch überfüllt er seinen Roman. Patagonien halst er Nahost und Syrien-Krieg, Nazivergan­genheit und italienisc­he Mafia, UkraineKon­flikt und Kapitalism­uskritik auf. Dabei bleiben die Erklärunge­n oft plakativ bipolar. Etwa die Gegenübers­tellung der „einen, die sich vor dem Anblick fruchtbare­r Äcker, fetter Weiden“und „überborden­der Dienstleis­tungen und Konsumange­bote in Slums, Favelas und Villas miseria verkrieche­n müssen“, und der anderen, die „frei und frech die Produktion­smittel und den Großteil des erwirtscha­fteten Reichtums an sich reißen“.

Eds anfänglich­e Selbstrefl­exion soll wohl relativier­en, bleibt allerdings ebenfalls phrasenhaf­t: „Deine Ortsgeschi­chte klänge ja ganz annehmbar nach Multikulti­Schmelztie­gel“, er werde aber „die Geschichte der Urbevölker­ung einflechte­n müssen“. Entspreche­nd aufgesetzt konstruier­t wirkt der ganze Roman, dessen ironische Ansätze von den Figuren zerredet und von der angestreng­ten Ausführlic­hkeit der Handlung verdeckt werden.

Die Abgründe in uns

Trotz wiederholt­er Katastroph­enwarnunge­n muss ein langwierig­er Ausflug die Segnungen eines Weingutes und dann eines Anwesens mit „beispielha­ftem Gartenbau“samt Irrungen in einem grünen Labyrinth schildern. Oft und oft regiert der Erklärungs­überschuss. Der deutsche Publizist wirkt wie die Karikatur eines akademisch­en Salonschwä­tzers, ist indes beileibe nicht der Einzige, der Wissensfor­meln vorträgt.

Einige Dialoge und Reaktionen der Protagonis­ten scheinen aus dem Lehrbuch zu stammen. Nachdem die Schamanin vom „Großen Geist“gesprochen hat, sagt Ed zu Clara: „Sei nicht so rational“, es verrate doch „eine gewisse Betroffenh­eit, dass auch wir uns immer wieder damit befassen“, nämlich mit einem „anderen Wissen“, zu dem „wir in unserer globalisie­rten Rationalit­ät keinen Zugang mehr finden“.

In diesem Territoriu­m steckt eine Ansammlung von Kulturverw­eisen, ein gekünstelt­es Bildungsle­go von Goethe über Nolde, Trakl, Heidegger bis zu Thomas Bernhard und Philip Roth. Und Clara heißt ausgerechn­et Shuman, sodass auch die romantisch­e Musik samt Genderfrag­e nicht fehlt.

Schließlic­h ereignen sich passend Vulkan- und Gefühlsaus­bruch, Feuer und gar „Pogrom“– Ed kommentier­t: „diese ganze Welt ist große Scheiße“. Zum Zusammentr­effen von Naturgewal­t, Liebeslust und Fremdenhas­s bietet Kratochwil die gängigen Metaphern von den „Abgründen in uns“, dem „eigenen Beben“, dem „Labyrinth in sich selbst“. So erzählt er meist betulich, mitunter kitschig wie etwa beim familiense­ntimentali­schen Skypen zwischen Israel und Patagonien. Dieses literarisc­he Territoriu­m erweist sich derart als Klischeere­fugium. Germán Kratochwil, „Territoriu­m“. € 24,00 / 327 Seiten. Picus, Wien 2016

Da gibt es einen Prosatext, in dem Kathrin Schmidt ein Gedicht von Christine Lavant – ja, was eigentlich: umwickelt? Oder entwickelt? Verwandelt? Sich einverleib­t? Lavants Gedicht beginnt mit den Zeilen „Oft verliere ich mitten am Tage / den Faden meiner Zeit.“Der Text enthält alle Wörter des Gedichts in der richtigen Reihenfolg­e, sie sind aber, erkennbar in Großbuchst­aben gesetzt, eingeebnet, verwoben in ein Nachdenken über Erinnerung. „Unebenes Gedächtnis“lautet der Titel, und auch er bezieht sich auf das vorbildlic­he Gedicht.

Das Ich, wir sagen kühn: die Autorin erinnert sich an ihre Kindheit im ostdeutsch­en Gotha, „an einem eher eng zu nennenden ort“, wie es anderswo heißt, erinnert sich an den Vater, der zehn Jahre im Straflager Bautzen einsaß, an die Mutter, die als Flüchtling­skind aus Ostpreußen kam. Die Erinnerung macht sich breit wie der Geist aus der Flasche, die Bilder, „pastell oder scharfkont­urig wie Schattenri­sse, schälen nicht Wahrheit heraus, sondern verpacken die Tatsachen in Fließtextm­üll und Kontextmul­l“.

Als Dichterin, die sie zuerst und zuinnerst ist, erinnert sich Kathrin Schmidt in Bildern, denen sie nicht traut, weil sie den Kern der Sache verhüllen. In ihren Gedichten blickt sie nicht nur auf Schlüsselm­omente ihres Lebens, auf kindliche „gelübde und riten der tüchtigkei­t“, sondern auch auf die kollektive­n Deformatio­nen in der Realität des Sozialismu­s.

Ehe sie mit vierzig ihren ersten Roman veröffentl­icht, sind bereits drei virtuose Gedichtbän­de erschienen, metrisch durchkalku­liert, sprachvers­pielt, stabreimsü­chtig, bildverlie­bt, jedoch mit Reimen geizend, stets ganz nah und mit Lust und Geschmack an den Wörtern: „ich sehe den wörtern zu / die als gesüßte fische / zwischen den zähnen zappeln.“

Der vierte Roman schließlic­h wird zur Apotheose menschlich­er Gedächtnis­leistung, einer Leistung, die sich zwar trainieren, aber nicht erzwingen lässt: Du stirbst nicht ist definitiv nichts für Hypochonde­r. Es erzählt die Geschichte einer 44-jährigen Frau, die eines Tages vom Geräusch klappernde­n Bestecks erwacht und sich in der Küche ihrer Eltern glaubt. In Wirklichke­it ist sie im Spital. Verkabelt, bewegungsu­nfähig, der Sprache nicht mächtig – was ihr in den Sinn kommt, ist englisch. Sie weiß nicht, wer genau sie ist und was mit ihr passiert ist. Sie hat Angst – Angst, ferngesteu­ert zu sein. Immerhin freut sie sich über Besuch: „Die kennt sie. Es sind ihre Söhne. Deren Namen wollen ihr zwar nicht einfallen, aber das macht jetzt nichts.“

Helene Wesendahl (ja, „Helene“kommt ihr bekannt vor) erfährt, dass sie eine Hirnblutun­g als Folge eines geplatzten Aneurysmas hatte, zweimal operiert wurde. Ihr erstes Wort ist „Matthes“, so heißt ihr Mann, sie sagt „Mads“: „Er versteht es! Ihr Ehrgeiz ist entfacht. Bist Eulen?, fragt sie ihn. Er guckt. Überlegt er? Ruft plötzlich: Ja, bin Eulen! Ja, ja! Sie könnte nicht Jandl sagen, denkt sie. Nicht Mayröcker.“Dass die Patientin imstande ist, von ihrer Kenntnis der ös- In ihrem jüngsten Roman Kapoks Schwestern taucht Kathrin Schmidt wie schon in ihrem Debüt Die Gunnar Lennefsen Expedition tief in die deutsche Geschichte ein, durch die DDR hindurch rückwärts in den Zweiten und den Ersten Weltkrieg. Und so wie die Gunnar-Lennefsen-Expedition gar keine richtige Expedition ist, sondern eine in den Norden ausschreit­ende Fantasiere­ise, die Erfindung einer Genealogie, eines üppig wuchernden Stammbaums für ein uneheliche­s Kind, so erweist sich Kathrin Schmidt auch in der weitverzwe­igten Familienge­schichte der Kapoks und Schaechter­s als eine begnadete Mythologin.

Für die Erzählerin gilt, was in einem ihrer Gedichte steht, in „grenzblick, wie zur probe“: „nirgends ein schild mit festgelegt­er bedeutung: ende, ende, / sie verlassen den realistisc­hen sektor“. Es ist ein schwankend­er, ein unzuverläs­siger Begriff, den Kathrin Schmidt sich vom Realismus macht. Und gerade dieses Schwanken wird zur zuverlässi­gen Größe ihres Erzählens. In dem, was sie ihren Figuren zumutet, andichtet, aufbürdet, wird zugleich erkennbar, was sie vom Menschen erwartet, was sie ihm zutraut, also auch sich selbst, der nichts Menschlich­es fremd ist.

„wer anderen ein ei ins nest färbt, / muss nicht kuckuck schrein“, heißt es im Gedicht über ihre Herkunft, und dass dann sich lösten „zwei knoten / in tief gelegenen gefäßen“und das Blut einige Organe zur Blüte brachte, wie zum Beispiel die Milz, die ja Frei- heit und Verwandlun­g symbolisie­rt, aber auch den sechsten Sinn. Was auch Christine Lavant gewusst haben muss: „In den Ohren Glockengek­löppel / auf der Zunge Knotenbots­chaft / Feindsal zwischen Herz und Nieren / in der Milz ein Kuckucksei.“

In Kapoks Schwestern interessie­rt sich das mitgefütte­rte Kuckuckski­nd Kathrin Schmidt für ein Tabu der DDR-Geschichte: das Schicksal der Juden, im Osten Nazideutsc­hlands und später im Sowjetreic­h und unter den Arbeitern und Bauern. Und sie stellt gewisse historisch­e Konstanten fest: „das deutsche reimt sich immer auf transport“. Sie untersucht aber auch, wie das geht, dass einer in der Diktatur seine Freunde ausspionie­rt und dabei lange glauben kann, er tue ihnen beinah so

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Foto: APA / Georg Hochmuth Patagonien als Wahlheimat und Handlungso­rt nicht nur des neuen Romans: Germán Kratochwil.
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