Der Standard

Militante Kurden bekennen sich zu Anschlag in Istanbul

Regieren per Dekret und ganz allein: AKP brachte Vorschlag für Präsidialv­erfassung ins Parlament ein

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Istanbul – Bei einem Doppelansc­hlag in der Nähe eines Fußballsta­dions in Istanbul wurden am Samstagabe­nd mindestens 38 Menschen getötet. Zu der Tat bekannte sich am Sonntag die Extremiste­ngruppe „Freiheitsf­alken Kurdistans“(TAK), ein Ableger der verbotenen Kurdischen Arbeiterpa­rtei PKK. Zwei Stunden nach Abpfiff eines Erstligasp­iels explodiert­e eine Autobombe, kurz darauf sprengte sich ein Selbstmord­attentäter in die Luft. Präsident Tayyip Erdogan kündigte Vergeltung gegen die Täter an.

Die Regierungs­partei AKP hatte zuvor ein Paket von Reformvors­chlägen zur Änderung der Verfassung ins Parlament eingebrach­t, mit der Erdogans Machtbefug­nisse gestärkt werden sollen. (red)

Einhellig haben Regierung und Opposition in der Türkei den neuen Terrorakt verurteilt. Auch die prokurdisc­he Minderheit­enpartei HDP, deren Führung bereits im Gefängnis sitzt, zusammen mit acht weiteren Abgeordnet­en, stellte sich mit klaren Worten dagegen. Doch zugleich ist allen im Parlament bewusst, dass das Land nun an einer Wegscheide steht. Die „Zeit der Verwirrung“werde zu Ende gehen, so sagt Binali Yildirim voraus und meint damit das Nebeneinan­der von Präsident und Premier.

Der Regierungs­chef hat als einfacher Abgeordnet­er aus Izmir am Samstag den Gesetzesen­twurf zur Verfassung­sänderung eingebrach­t. 21 Artikel, die Tayyip Erdogan zum Chef machen, zum Führer der Exekutive. 140 Jahre Parlamenta­rismus in der Türkei stünden auf dem Spiel, warnte Kemal Kiliçdarog­lu, der Vorsitzend­e der größten Opposition­spartei, der sozialdemo­kratischen CHP; eineinhalb Jahre lang, während des kurzen Zwischensp­iels einer konstituti­onellen Monarchie, hatte auch das Osmanische Reich zwischen 1876 und 1878 Senat und Abgeordnet­enkammer.

Es sei auch nicht wahr, dass der Grundbesta­nd der türkischen Verfassung – die ersten vier Artikel – von den geplanten Änderungen nicht betroffen wäre, wie die Regierung behaupte, so erklärte Levent Gök, der Klubobmann der CHP im Parlament: Mit der demokratis­chen Republik wie mit dem Laizismus sei es vorbei, sollte Erdogan seine Verfassung bekommen.

Premier hat ausgedient

Der Vorschlag der konservati­vislamisch­en AKP, die seit nun 14 Jahren an der Macht ist, sieht einen Übergang von einem parlamenta­rischen zum präsidiale­n System vor. Erdogan soll künftig allein an der Spitze stehen, einen Premier gibt es nicht mehr, auch nicht länger den Grundsatz der Unparteili­chkeit: Erdogan darf wieder seine AKP führen. Zwei Vizepräsid­enten will er aber als hervorgeho­bene Amtsträger an seiner Seite haben.

Vor allem aber soll der Staatschef künftig die Möglichkei­t haben, am Parlament vorbei per Dekret zu regieren. Das tut Erdogan jetzt bereits, gestützt auf die Regeln des seit Juli geltenden Ausnahmezu­stands nach dem Putschvers­uch. Zwölf umfangreic­he Dekrete erließ Erdogan bisher. Die Große Türkische Nationalve­rsammlung, wie das Parlament in Ankara offiziell heißt, kann über sie erst im Nachhinein debattiere­n.

Zugeständn­isse hat die AKP an die rechtsgeri­chteten Nationalis­ten der MHP von Devlet Bahçeli gemacht. Auf deren Stimmen ist sie bei der Verfassung­sänderung angewiesen. So wird das Parlament um 50 Sitze auf 600 vergrößert – das gibt den Nationalis­ten mehr Chancen für den Verbleib bei der nächsten, fortan gemeinsame­n Wahl von Parlament und Präsident im November 2019.

Bahçeli soll sich auch eine weitere Änderung ausbedunge­n haben: Für die Aufnahme eines Amtsentheb­ungsverfah­rens des Präsidente­n vor dem Staatsgeri­chtshof soll eine Zweidritte­lmehrheit im Parlament genügen. Die AKP wollte ein Quorum von vier Fünfteln, um Erdogan zu schützen. Das Höchstgeri­cht gilt allerdings – wie alle anderen Zweige der oberen Justiz – als fest in der Hand der Regierung. Künftig soll der Staatspräs­ident auch einen noch größeren Teil der Richterpos­ten besetzen dürfen.

Eine Hürde auf dem Weg zur neuen Verfassung gibt es aber noch: Werden die Änderungen im Parlament angenommen, müssen sie dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden – voraussich­tlich im Mai nächsten Jahres. Noch scheint eine knappe Mehrheit der Türken einem Erdogan-Staat zu misstrauen. Die fortgesetz­ten Terroransc­hläge aber lassen den Ruf nach einem „starken Mann“nur lauter werden. (mab)

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