Das Jahr des Terrors am Bosporus
Die Türkei kommt nicht zur Ruhe: ein vereitelter Putsch, dann Ausnahmezustand und beispiellose Säuberungswelle, nun wieder Terror in Istanbul. Erdogan verspricht den „Kampf bis zum Ende“.
Todesstrafe!“, rufen sie und „Nein zur EU!“Mehrere Tausend ziehen am Tag nach dem Doppelanschlag am Stadion von Beşiktaş vorbei, schwenken die rote türkische Fahne, manche lassen ihrer Wut freien Lauf.
Die Europäische Union steht wieder am Pranger. Seit Wochen trommelt die türkische Regierung schon lautstark gegen die „Terrorismus-Unterstützer“, vor allem gegen Deutschland. Die Deutschen, so heißt es unablässig, würden die PKK-Bomber und die Putschisten der Gülen-Bewegung beherbergen. Den türkischen Botschafter in Wien hat die Regierung schon im vergangenen Sommer nach einer prokurdischen Demonstration mit PKK-Sympathisanten abgezogen.
38 Menschen starben dieses Mal, die meisten waren Polizisten. Samstagabend, nach einem Spiel zwischen Beşiktaş und Bursaspor, sprengten sich zwei Attentäter in die Luft. Das Dutzend der schweren Terroranschläge in türkischen Städten in diesem Jahr ist damit voll.
Frust und Nationalismus
Alles vermischt sich nun: der Frust über die Europäer, die Ohnmacht angesichts der Terrorserie im Land, der Nationalismus und das grimmige Gefühl des Alleingelassenwerdens von den anderen Staaten der Welt. „Wir werden uns nicht daran gewöhnen“steht auf einem schwarzen Tuch, das die Demonstranten vor dem neuen Beşiktaş-Stadion tragen.
„Wir werden die Geißel des Terrorismus bis zum Ende bekämpfen“, verspricht Präsident Tayyip Erdogan. Es war sein Wochenende: Am Samstag hatte seine Partei den Antrag für die Verfassungsänderung ins Parlament eingebracht.
Es ist eine Zäsur in der Geschichte der Republik. Jahrelang arbeitete Erdogan beharrlich auf die Einführung einer Präsidialverfassung hin, maßgeschneidert auf seine Machtwünsche (siehe Bericht unten). Als die Bomben am Beşiktaş-Stadion und im nahegelegenen Macka-Park explodieren, ist der Staatschef in seinem Palast in Tarabya, nur einige Kilometer aufwärts am Bosporus, ebenfalls auf der europäischen Seite.
Zu dem jüngsten Anschlag bekannte sich am Sonntagnachmittag die TAK, eine Splittergruppe der kurdischen Extremistenmiliz PKK. Regierungssprecher Numan Kurtulmuş hatte die PKK zuvor als Erster verdächtigt. Das Attentat trage die Kennzeichen von Kurdistans Untergrundarmee, sagte er. Im Lauf des Sonntags hatten sich dann die Anschuldigungen gegen die PKK gemehrt, die in der Türkei wie in Europa als Terrororganisation eingestuft wird: Türkischen Geheimdienstinformationen zufolge soll einer der beiden Selbstmordattentäter aus dem Gebiet der syrischen Kurdenpartei PYD gekommen sein.
Ankaras Anklagen sind bisher ungehört geblieben. Die Demokratische Unionspartei PYD werde in Wahrheit von der PKK dirigiert, so predigt die politische Führung der Türkei den Nato-Partnern. Die USA unterstützen noch die Miliz der PYD als wichtigsten militärischen Partner im Kampf gegen die Terrorarmee „Islamischer Staat“.
Mit dem nächsten US-Präsidenten wird es anders, so hofft Ankara. Donald Trump mag die Gemengelage auf dem syrischen Kriegsschauplatz zu kompliziert sein.
Fünf Särge
Nur Stunden nach dem Anschlag werden Sonntagfrüh die Särge von fünf Beamten in den Hof des Polizeihauptquartiers im Istanbuler Stadtteil Fatih getragen. Das Jahr begann mit dem Terroranschlag des IS vor der Blauen Moschee in Istanbul, es mag zu Ende gehen mit dem Anschlag gegen Besucher eines Fußballspiels und vor allem gegen jene, die für die Sicherheit zuständig waren: 30 Tote sind Polizisten, sieben sind Zivilisten; einen Toten konnten die Ermittler vorerst nicht identifizieren.
Wladimir Putin kann mit dem Jahr 2016 zufrieden sein. Sein Favorit wurde zum amerikanischen Präsidenten gewählt, und wie die US-Geheimdienste nun bestätigen, hat die russische Führung durch ihre Hacker selbst zu diesem Wahlergebnis beigetragen. Und wenn PutinBewunderer Donald Trump jetzt auch noch den langjährigen Putin-Freund und -Geschäftspartner Rex Tillerson, den ExxonMobil-Chef, zum Außenminister macht, dann hat Moskau sein Traumpaar an der Spitze der bisher so lästigen Supermacht stehen.
Indes wird in der Ukraine die Besetzung der Krim und des Donbass allmählich zum Normalzustand, an dem niemand mehr zu rütteln wagt. Durch das Völkerrecht, das früher in Moskau hochgehalten wurde, fühlt sich Putin nicht mehr eingeschränkt.
In Syrien hat der russische Militäreinsatz eine Wende zugunsten Putins Verbündeten Bashar al-Assad gebracht. Und mit dem Bombenterror gegen Aleppo hat Putin aufgezeigt, dass auch Kriegsverbrechen völlig ungestraft bleiben können. Dass gleichzeitig der Internationale Strafgerichtshof Auflösungssymptome zeigt, passt gut in Putins Konzept einer Welt, in der nur die Macht des Stärkeren zählt. ie EU, die ganz andere Werte vertritt, wurde durch den Brexit und den Aufstieg von populistischen Parteien deutlich geschwächt. Von Estland bis Moldau sind neue Politiker an der Macht, die Russland freundlicher gesinnt sind als ihre Vorgänger. Selbst in Frankreich zeichnet sich bei den Präsidentenwahlen 2017 eine Entscheidung zwischen der PutinVerbündeten Marine Le Pen, deren Partei der Kreml mitfinanziert, und dem konservativen Duzfreund François Fillon ab. Die deutsch-französische Front gegen Russlands Aggressionspolitik wäre dann Geschichte. Dass Putin-Versteher Norbert Hofer im kleinen Österreich die Wahl verloren hat, ist angesichts dessen verschmerzbar.
Auch zu Hause schauen die Dinge trotz Wirtschaftskrise gut aus. Das jüngste Opec-Abkommen könnte den Ölpreis festigen, dessen Verfall die russische Wirtschaft viel härter getroffen hat als alle Sanktionen. Und im Kreml ersetzt Putin profilierte Mitstreiter durch junge, hörige Jasager.
Am wichtigsten aber ist für ihn, dass das Konzept des Westens – einer liberalen, auf Rechtsstaatlichkeit und
Dinternationale Zusammenarbeit basierenden Weltordnung – heuer einen schweren, vielleicht vernichtenden Schlag erlitten hat. Es war diese Vision, die einst den Kollaps des Kommunismus befeuert hat. Putin vertritt zwar keine rivalisierende Ideologie, er sieht aber diesen Westen als Gefahr für seine korrupte Herrschaft. Ihm nützt auch die Ausbreitung der „Fake News“, von denen ein guter Teil in Moskau selbst fabriziert wird.
Trotz dieser Prestigeerfolge ist Putins Position unsicherer, als es scheint. Die Einmischung im US-Wahlkampf schlägt in Washington hohe Wellen und droht Trump noch vor dem Amtsantritt entscheidend zu schwächen. Die neue US-russische Freundschaft könnte sein Bauernopfer werden.
In Europa muss Putin wohl mit heftigen Gegenreaktionen rechnen, wenn er versucht, aus seinen Erfolgen Kapital zu schlagen. Die Wirtschaftssanktionen mögen unpopulär sein und so die Putin-freundlichen Kräfte stärken. Aber gegen ein Russland, das Europas Interessen direkt bedroht, werden die EU-Staaten geschlossen stehen, egal wer gerade regiert. Und auch die USA unter Trump werden sich nicht zum Handlanger des Kremls machen lassen.