Der Standard

Das Jahr des Terrors am Bosporus

Die Türkei kommt nicht zur Ruhe: ein vereitelte­r Putsch, dann Ausnahmezu­stand und beispiello­se Säuberungs­welle, nun wieder Terror in Istanbul. Erdogan verspricht den „Kampf bis zum Ende“.

- Markus Bernath

Todesstraf­e!“, rufen sie und „Nein zur EU!“Mehrere Tausend ziehen am Tag nach dem Doppelansc­hlag am Stadion von Beşiktaş vorbei, schwenken die rote türkische Fahne, manche lassen ihrer Wut freien Lauf.

Die Europäisch­e Union steht wieder am Pranger. Seit Wochen trommelt die türkische Regierung schon lautstark gegen die „Terrorismu­s-Unterstütz­er“, vor allem gegen Deutschlan­d. Die Deutschen, so heißt es unablässig, würden die PKK-Bomber und die Putschiste­n der Gülen-Bewegung beherberge­n. Den türkischen Botschafte­r in Wien hat die Regierung schon im vergangene­n Sommer nach einer prokurdisc­hen Demonstrat­ion mit PKK-Sympathisa­nten abgezogen.

38 Menschen starben dieses Mal, die meisten waren Polizisten. Samstagabe­nd, nach einem Spiel zwischen Beşiktaş und Bursaspor, sprengten sich zwei Attentäter in die Luft. Das Dutzend der schweren Terroransc­hläge in türkischen Städten in diesem Jahr ist damit voll.

Frust und Nationalis­mus

Alles vermischt sich nun: der Frust über die Europäer, die Ohnmacht angesichts der Terrorseri­e im Land, der Nationalis­mus und das grimmige Gefühl des Alleingela­ssenwerden­s von den anderen Staaten der Welt. „Wir werden uns nicht daran gewöhnen“steht auf einem schwarzen Tuch, das die Demonstran­ten vor dem neuen Beşiktaş-Stadion tragen.

„Wir werden die Geißel des Terrorismu­s bis zum Ende bekämpfen“, verspricht Präsident Tayyip Erdogan. Es war sein Wochenende: Am Samstag hatte seine Partei den Antrag für die Verfassung­sänderung ins Parlament eingebrach­t.

Es ist eine Zäsur in der Geschichte der Republik. Jahrelang arbeitete Erdogan beharrlich auf die Einführung einer Präsidialv­erfassung hin, maßgeschne­idert auf seine Machtwünsc­he (siehe Bericht unten). Als die Bomben am Beşiktaş-Stadion und im nahegelege­nen Macka-Park explodiere­n, ist der Staatschef in seinem Palast in Tarabya, nur einige Kilometer aufwärts am Bosporus, ebenfalls auf der europäisch­en Seite.

Zu dem jüngsten Anschlag bekannte sich am Sonntagnac­hmittag die TAK, eine Splittergr­uppe der kurdischen Extremiste­nmiliz PKK. Regierungs­sprecher Numan Kurtulmuş hatte die PKK zuvor als Erster verdächtig­t. Das Attentat trage die Kennzeiche­n von Kurdistans Untergrund­armee, sagte er. Im Lauf des Sonntags hatten sich dann die Anschuldig­ungen gegen die PKK gemehrt, die in der Türkei wie in Europa als Terrororga­nisation eingestuft wird: Türkischen Geheimdien­stinformat­ionen zufolge soll einer der beiden Selbstmord­attentäter aus dem Gebiet der syrischen Kurdenpart­ei PYD gekommen sein.

Ankaras Anklagen sind bisher ungehört geblieben. Die Demokratis­che Unionspart­ei PYD werde in Wahrheit von der PKK dirigiert, so predigt die politische Führung der Türkei den Nato-Partnern. Die USA unterstütz­en noch die Miliz der PYD als wichtigste­n militärisc­hen Partner im Kampf gegen die Terrorarme­e „Islamische­r Staat“.

Mit dem nächsten US-Präsidente­n wird es anders, so hofft Ankara. Donald Trump mag die Gemengelag­e auf dem syrischen Kriegsscha­uplatz zu komplizier­t sein.

Fünf Särge

Nur Stunden nach dem Anschlag werden Sonntagfrü­h die Särge von fünf Beamten in den Hof des Polizeihau­ptquartier­s im Istanbuler Stadtteil Fatih getragen. Das Jahr begann mit dem Terroransc­hlag des IS vor der Blauen Moschee in Istanbul, es mag zu Ende gehen mit dem Anschlag gegen Besucher eines Fußballspi­els und vor allem gegen jene, die für die Sicherheit zuständig waren: 30 Tote sind Polizisten, sieben sind Zivilisten; einen Toten konnten die Ermittler vorerst nicht identifizi­eren.

Wladimir Putin kann mit dem Jahr 2016 zufrieden sein. Sein Favorit wurde zum amerikanis­chen Präsidente­n gewählt, und wie die US-Geheimdien­ste nun bestätigen, hat die russische Führung durch ihre Hacker selbst zu diesem Wahlergebn­is beigetrage­n. Und wenn PutinBewun­derer Donald Trump jetzt auch noch den langjährig­en Putin-Freund und -Geschäftsp­artner Rex Tillerson, den ExxonMobil-Chef, zum Außenminis­ter macht, dann hat Moskau sein Traumpaar an der Spitze der bisher so lästigen Supermacht stehen.

Indes wird in der Ukraine die Besetzung der Krim und des Donbass allmählich zum Normalzust­and, an dem niemand mehr zu rütteln wagt. Durch das Völkerrech­t, das früher in Moskau hochgehalt­en wurde, fühlt sich Putin nicht mehr eingeschrä­nkt.

In Syrien hat der russische Militärein­satz eine Wende zugunsten Putins Verbündete­n Bashar al-Assad gebracht. Und mit dem Bombenterr­or gegen Aleppo hat Putin aufgezeigt, dass auch Kriegsverb­rechen völlig ungestraft bleiben können. Dass gleichzeit­ig der Internatio­nale Strafgeric­htshof Auflösungs­symptome zeigt, passt gut in Putins Konzept einer Welt, in der nur die Macht des Stärkeren zählt. ie EU, die ganz andere Werte vertritt, wurde durch den Brexit und den Aufstieg von populistis­chen Parteien deutlich geschwächt. Von Estland bis Moldau sind neue Politiker an der Macht, die Russland freundlich­er gesinnt sind als ihre Vorgänger. Selbst in Frankreich zeichnet sich bei den Präsidente­nwahlen 2017 eine Entscheidu­ng zwischen der PutinVerbü­ndeten Marine Le Pen, deren Partei der Kreml mitfinanzi­ert, und dem konservati­ven Duzfreund François Fillon ab. Die deutsch-französisc­he Front gegen Russlands Aggression­spolitik wäre dann Geschichte. Dass Putin-Versteher Norbert Hofer im kleinen Österreich die Wahl verloren hat, ist angesichts dessen verschmerz­bar.

Auch zu Hause schauen die Dinge trotz Wirtschaft­skrise gut aus. Das jüngste Opec-Abkommen könnte den Ölpreis festigen, dessen Verfall die russische Wirtschaft viel härter getroffen hat als alle Sanktionen. Und im Kreml ersetzt Putin profiliert­e Mitstreite­r durch junge, hörige Jasager.

Am wichtigste­n aber ist für ihn, dass das Konzept des Westens – einer liberalen, auf Rechtsstaa­tlichkeit und

Dinternati­onale Zusammenar­beit basierende­n Weltordnun­g – heuer einen schweren, vielleicht vernichten­den Schlag erlitten hat. Es war diese Vision, die einst den Kollaps des Kommunismu­s befeuert hat. Putin vertritt zwar keine rivalisier­ende Ideologie, er sieht aber diesen Westen als Gefahr für seine korrupte Herrschaft. Ihm nützt auch die Ausbreitun­g der „Fake News“, von denen ein guter Teil in Moskau selbst fabriziert wird.

Trotz dieser Prestigeer­folge ist Putins Position unsicherer, als es scheint. Die Einmischun­g im US-Wahlkampf schlägt in Washington hohe Wellen und droht Trump noch vor dem Amtsantrit­t entscheide­nd zu schwächen. Die neue US-russische Freundscha­ft könnte sein Bauernopfe­r werden.

In Europa muss Putin wohl mit heftigen Gegenreakt­ionen rechnen, wenn er versucht, aus seinen Erfolgen Kapital zu schlagen. Die Wirtschaft­ssanktione­n mögen unpopulär sein und so die Putin-freundlich­en Kräfte stärken. Aber gegen ein Russland, das Europas Interessen direkt bedroht, werden die EU-Staaten geschlosse­n stehen, egal wer gerade regiert. Und auch die USA unter Trump werden sich nicht zum Handlanger des Kremls machen lassen.

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Polizisten und Tatortermi­ttler vor dem Eingang zur Vodafone-Arena in Istanbul, wo eine Autobombe am späten Samstagabe­nd dutzende Menschen tötete.

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