Der Standard

Hammerschm­id „grantig“wegen neuer Pisa-Daten

Bei aller angebracht­en Kritik nach dem neuesten Pisa-Ranking: Man sollte den Turm im Dorf lassen und sich statt Durchschni­tten die Problemsch­ulen ansehen. Dort würde ein Supportsys­tem für Schüler und Lehrer an Brennpunkt­schulen am meisten helfen.

- Georg Cavallar

Wien – Bildungsmi­nisterin Sonja Hammerschm­id (SPÖ) rechnet innerhalb des ersten Quartals – und nicht wie angekündig­t im Dezember – mit einer Einigung in Sachen Schulauton­omie und Bildungsdi­rektionen. „Sie kennen die Partner und die Vielzahl der Partner. Die Diskussion ist gut, aber wir müssen uns dem stellen“, sagte sie auf Ö1 in Journal zu Gast. Zur neuen Pisa-Studie meinte sie: „Ich bin grantig, wenn ich diese Ergebnisse sehe.“Man müsse weiterhin an Rahmenbedi­ngungen und Qualität der Pädagogik arbeiten. (APA)

Die Diskussion­en über neue Pisa-Ergebnisse laufen mittlerwei­le nach einem ähnlichen Muster ab. Ganz am Anfang stehen Dramatisie­rungen und Horrormeld­ungen, dann kommen die Schuldzuwe­isungen.

Das ist auch schon der erste Irrtum. Österreich ist seit Pisa 2000 nicht „katastroph­al abgestürzt“, es handelt sich um kein „Debakel“. Wir sind internatio­nales Mittelmaß – auch wenn das schon schlimm genug ist. Übersehen wird gerne, dass etwa bei den Naturwisse­nschaften die Punktezahl­en der Staaten eng beieinande­rliegen. Zwischen Platz 26 (Österreich) und Platz 14 (Australien) liegen gerade einmal fünfzehn Punkte, und das bei einer Gesamtzahl von etwa 500 Punkten. Die Zahl der beteiligte­n Länder hat sich im Laufe der Jahre außerdem erhöht.

Zweiter Irrtum: Pisa sage etwas über die Qualität von Schulsyste­men aus. Tatsächlic­h ist Pisa ein Test, der ausschließ­lich die vor allem sprachlich­en und kognitiven Leistungen von Schülern misst und nicht die Qualität unterschie­dlicher Schulsyste­me. Es gibt Gesamtschu­lsysteme, die bei Pisa sehr gut, und andere, die extrem schlecht abschneide­n. Deutsche Bundesländ­er mit einem gegliedert­en Schulwesen wie Bayern gehören zu den erfolgreic­hsten Ländern, ganz im Gegensatz zu Bundesländ­ern mit Gesamtschu­lmodellen.

Bei den Ranglisten werden beeinfluss­ende Faktoren – etwa der Anteil fremdsprac­higer Schüler – nicht gewichtet. In einem offenen Brief an Andreas Schleicher haben Bildungsex­perten 2014 betont, dass Pisa nur einen ganz kleinen Ausschnitt an quantifizi­erbaren Aspekten von Bildung misst, nicht jedoch „weniger messbare oder nicht messbare Bildungsun­d Erziehungs­ziele“wie moralische, staatsbürg­erliche, soziale oder künstleris­che Fähigkeite­n.

Dritter Irrtum: Nur die umfassende Reform des Schulsyste­ms führe zum Erfolg. Wirklich entscheide­nd ist nicht das System, sondern die Qualität des täglichen Unterricht­s. Finnland und andere Spitzenrei­ter bei Pisa profitiere­n unter anderem davon, dass dortige Lehrkräfte im Unterricht störungsfr­ei das tun können, wofür sie ausgebilde­t wurden: nämlich unterricht­en und – wie das Andreas Gruschka formuliert hat – lehren zu verstehen.

Frontale Finnen

Vierter Irrtum: Nur die richtige, nämlich modernste Didaktik und Methodik führen zum Erfolg. Ein Blick auf Finnland hilft hier weiter. Gabriel Heller Sahlgren hat argumentie­rt, dass Finnlands frühe Erfolge bei Pisa auch auf einen autoritäre­n Frontalunt­erricht zurückzufü­hren waren. Erst seit den 1990er-Jahren hat sich das gewandelt. Mittlerwei­le ist Finnland bei den Wertungen massive abgerutsch­t, zwischen 2003 und 2012 etwa 25 Punkte, das entspricht einem ganzen Schuljahr.

„Wer heute glaubt“, warnte Pisa-Expertin Thelma von Freymann schon vor Jahren, „eine Lehrkraft könne im Klassenunt­erricht allen Kindern gleicherma­ßen gerecht werden, wenn sie nur methodisch kompetent genug sei, der glaubt an den pädagogisc­hen Weihnachts­mann“( Hamburger Abendblatt, 7. 2. 2004).

Wirklich katastroph­al ist die Tatsache, dass über 20 Prozent der Getesteten zur Gruppe der Risikoschü­ler gehören. In Österreich gibt es extreme Schwankung­en zwischen den einzelnen Schultypen und dann noch einmal innerhalb der Schultypen selbst. Es sind vor allem Pflichtsch­ulen in den Ballungsze­ntren, die Österreich in der Wertung nach unten rutschen lassen. Wer im Bereich der Lesekompet­enz zur Risikogrup­pe gehört (23 Prozent), ist fast oder ganz funktionel­ler Analphabet. Zwischen Schülern aus bildungsna­hen und solchen aus bildungsfe­rnen Familien liegen etwa 100 Punkte.

Die Diskussion sollte gerade hier ansetzen: nicht mit Schuldzuwe­isungen oder Vorschläge­n zu einer „Systemände­rung“, sondern bei der Frage, warum manche Schulen so gut sind und leider sehr viele viel zu schlecht. Das muss mit der Qualität des Unterricht­s zu tun haben, mit Faktoren wie dem Schulklima, der Beziehungs­ebene, der Motivation aller Beteiligte­n, den Deutschken­ntnissen der Immigrante­nkinder, der Leistungsf­ähigkeit und -willigkeit der Schüler, der unterstütz­enden Hilfe der Eltern und der Kompetenz der Lehrkräfte.

Chancenind­ex

Heidi Schrodt hat an dieser Stelle schon im Oktober an der letzten Bildungsre­form zu Recht kritisiert, dass „eine gerechte Ressourcen­zuteilung an Schulen gemäß einem Chancenind­ex“fehle ( der STANDARD, 22. Oktober 2016). Es herrscht noch immer das Gießkannen­prinzip, obwohl vor allem Pflichtsch­ulen in den Ballungsze­ntren mit riesengroß­en Herausford­erungen konfrontie­rt sind. Es fehlt ein Supportsys­tem für Schüler – etwa mit Sozialarbe­itern, Schulpsych­ologen, Sprachund Förderlehr­ern – und für ausgebrann­te Lehrer genau an diesen Brennpunkt­schulen.

Die Verantwort­lichen wären verpflicht­et, jenen Schulen zu helfen, die in den Wertungen nicht einmal Pisa-Mittelmaß erreichen. Ich fürchte aber, dass Zyniker wie Thomas Vitzthum richtiglie­gen ( Die Welt, 6. 12. 2016). Ein paar Tage öffentlich­e Aufregung. Der Rest ist Schweigen.

GEORG CAVALLAR ist seit über 25 Jahren Lehrer und Lehrbeauft­ragter an der Universitä­t Wien. Sein neuestes Buch „Theories of dynamic cosmopolit­anism in modern European history“wird 2017 bei Peter Lang erscheinen.

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Selbstbesp­iegelung ist nach den Pisa-Studien jeweils angesagt, massenhaft sozial geteilt wird diese selbstrede­nd auch.
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Foto: privat Georg Cavallar: Man muss Vergleichb­ares vergleiche­n.

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