Der Standard

„Ein Stich – und dann ist es aus“

Sie liebt Wien. Grant und Langsamkei­t der Wiener versteht Elisabeth Leonskaja aber nicht. Die Pianistin erzählt von der russischen Seele, dem Heiligen am Musikmache­n und von der Vergänglic­hkeit von Stars.

- Renate Graber

Standard: Was für ein Blick. Sie sehen vom Balkon auf Stephansdo­m, Belvedere, Russische Kirche ... Leonskaja: Das war entscheide­nd, als ich die Wohnung erstmals angeschaut habe. Ich sah das – und es war wie ein Zeichen für mich.

Standard: Sie sagen, Wien sei so schön, dass es Sie vom Arbeiten ablenke. Robert Schumann klagte auch immer, er bringe in Wien nichts weiter. Leonskaja: Ja, er schrieb an seine Frau Clara, dass er hier nichts zu Papier bringe. Die Stadt hat was. Ob es das Klima ist? Ich bin noch nicht schlau geworden.

Standard: Sie sind seit 38 Jahren in Wien ... Leonskaja: Oijoijoi, wie das klingt.

Standard: … fühlen sich aber nicht als Wienerin. Ihre Heimat ist Russland, woher Ihre Eltern stammten? Leonskaja: Nein, meine Heimat ist die russische Sprache und die russische Kultur.

Standard: Was davon haben Sie sich bewahrt? Leonskaja: Den Zustand der Seele.

Standard: Wie ist Seele beschaffen? Leonskaja: Frei.

die russische

Standard: Und immer im Kampf um die Freiheit? Leonskaja: Eben nicht mit Kampf. Der seelische Zustand ist nicht von Äußerlichk­eiten abhängig, vielleicht weil die Russen das Leben in schwierige­n Umständen gewohnt sind. Deswegen wundere ich mich immer, dass die Menschen in Wien so wenig lächeln, so bekümmert sind. Obwohl sie in so einer herrlichen Stadt leben.

Standard: Die Wiener müssen halt ihren Grant pflegen. Leonskaja: Aber ich verstehe nicht, wozu und warum. Stefan Zweig hat die Müdigkeit der Wiener vor hundert Jahren damit erklärt, dass so viele Nationen hier leben, aber jede für sich, und mit fehlendem Patriotism­us. Ich weiß nicht, ob das für heute noch passt – aber die Müdigkeit ist noch zu spüren. Man wird faul in dieser Stadt, gefällt sich auch, wenn man nichts tut. Gert Voss meinte einmal, wenn man in Wien nicht an sich arbeitet, wird man in einer Woche zu einem Stück Sachertort­e.

Standard: Haben Sie nichts von den Wienern angenommen? Leonskaja: Man sagt, dass in Wien alle stundenlan­g über nichts reden können. Das habe ich leider schon angenommen.

Standard: Vielleicht braucht man das, um in langweilig­er Gesellscha­ft zu überleben. Leonskaja: Warum muss man da überleben? Das ist nicht notwendig. In Wien ist man höflich, lächelt – und kommt nicht weiter. Die Leute sprechen ihre Meinung oft nicht aus, und so verlieren sie mit der Zeit ihre Meinung. So sehe ich es, aber ich bin ja nicht oft hier, ich reise viel. Ich will ja spielen.

PStandard: Regisseuri­n Andrea Breth, mit der Sie befreundet sind, sagt, Heimat sei ihr dort, wo es schön zu arbeiten ist. Leonskaja: Ich glaube auch, dass das Gefühl der Harmonie uns Glück und Heimat ist. Wenn man am Arbeitspla­tz zu Hause ist, ist das auch Heimat. Mein Arbeitspla­tz ist am Klavier, und es ist mir ganz egal, wo ich sitze. Ob am Pianino, am Flügel, in einem wunderschö­nen Raum oder in einer Ecke: Hauptsache, ich kann konzentrie­rt und bei mir sein. Wenn man bei sich ist, dann ist das Heimat.

Standard: Sie haben mit elf Ihr erstes Konzert gespielt. Gibt es eines, das Sie besser nie gegeben hätten? Leonskaja: Nein. Aber es gab Aufgaben, bei denen ich mich überschätz­t habe. Die Erfahrung, die ich daraus gewonnen habe, hat mir trotzdem viel gebracht.

Standard: Für Sie sind Noten Texte; und Sie wollen mit Ihrer Musik Geschichte­n erzählen. Schönberg haben Sie jüngst im Musikverei­n nicht auswendig gespielt. Warum? Leonskaja: Es wäre mir zu gefährlich ohne Noten, das Stück ist ziemlich frisch in meinem Repertoire und der Text sehr schwierig. Aber es hat mich sehr gereizt.

Standard: Und: zufrieden? Leonskaja: Ich hatte jedenfalls das Gefühl, mich in diesem Stück auf dem richtigen Weg zu befinden. Ohne zu verstehen, wie ein Stück komponiert wurde, kann man es nicht spielen. Man muss es gut analysiere­n, nur dann kann man eine logische Linie schaffen. Dann ist auch der Zuhörer dabei.

Standard: Manche halten das Wiener Publikum für snobistisc­h. Sie auch? Leonskaja: Nein, wirklich nicht. Das Publikum ist überall gut, die Leute kommen ja nicht um zu kritisiere­n, sondern um Musik zu hören. Alfred Brendel wurde einmal gefragt, wo er leben wolle – er meinte, in einer Stadt, in deren Konzertsaa­l das Publikum nicht hustet. Aber mein Gott, man darf sich doch von der Husterei nicht beeinfluss­en lassen, denn sonst ist man selbst verstimmt. Ich bin überzeugt: Wenn auf der Bühne Konzentrat­ion und Hingabe herrschen, dann überträgt sich das in den Saal. Das ist dann die Qualität der Stille.

Standard: Stille gibt es heutzutage sehr selten. INTERVIEW:

Musik ist eine heilige Sache. Weil auch das Leben heilig ist. Es wurde uns gegeben – wozu? Um in die Konditorei zu gehen? Eben.

Leonskaja: Kommt drauf an. In nördlichen Ländern gibt es Stille in sich, in der Hitze des Südens eher nicht. Aber die Stille der Konzentrat­ion hat eine andere Qualität: Sie ist sehr kostbar und schön.

Standard: Sie gehören zu den weltbesten Pianistinn­en, werden gern „Grande Dame“genannt. Sind Sie eigentlich stolz auf sich? Leonskaja: Grande Dame? Oh, davon nehme ich ebenso wenig Notiz, wie wenn Taxifahrer „Madame“zu mir sagen. Madame: Na und? Was bringt mir das für meine Arbeit? Gar nichts. Als Studenten haben wir viel von Heinrich Neuhaus gelesen ...

Standard: „Man muss die Musik in sich suchen“, riet der Pianist und Musikpädag­oge ... Leonskaja: Ja, aber auch, dass Lob uns weniger beschäftig­en soll als Kritik. Künstler müssen lernen, mit sich umzugehen, und wissen, was gut war und was nicht. Künstler sind auf ihr Gewissen angewiesen, mehr als auf die Meinung anderer. Unser Gewissen kann uns nicht täuschen. Und ob ich stolz bin auf mich? Stolz nein, aber glücklich. Vor allem darüber, dass ich durch gewisse Lebensabsc­hnitte, durch einige Tunnels gegangen bin und mich nicht verloren habe. Leonskaja: Oh ja. Goldberg- und Diabelli-Variatione­n etwa, Hammerklav­ier-Sonate. Ich habe viele Werke noch nicht angerührt, weil ich zu großen Respekt davor habe. Ich denke, das ist auch gut so.

Standard: Sie lieben die Arbeit von Literaturn­obelpreist­räger Joseph Brodksy. Er sagte, wenn die Kunst den Künstler etwas lehre, dann „die Privatheit der menschlich­en Existenz, die Einzigarti­gkeit“. Ist es so? Leonskaja: Sicher: Nur aus eigener Erfahrung in jeglicher Hinsicht, nur aus dem, was man begreift, entsteht Kunst.

Standard: Was lehrt Sie die Kunst sonst noch? Leonskaja: Ich kann nur mit einem Zitat antworten. Salzburger Festspiele, Sandor Vegh spielt Mozart. In der Pause: Gespräch mit dem Künstler. Frage: „Sagen Sie, Herr Professor: Wie machen Sie Mozart?“Antwort: „Ich mache Mozart nicht. Mozart macht mich.“

Standard: Was muss beim Spielen geschehen, damit Sie nicht mit sich zufrieden sind? Leonskaja: Man ist selten zufrieden. Ich habe den Cellisten Walentin Berlinski oft gefragt: „Wie war’s?“„Nicht ohne Verluste“, war seine Antwort. Und so ist es: Die Bühne ist keine Schallplat­te, Musikmache­n ist ein lebendiger Prozess in einem akustische­n Raum. Elisabeth Leonskaja Pianistin

Standard: Sie wollten nie etwas anderes werden als Pianistin? Leonskaja: Weiß ich nicht, ich habe nie darüber nachgedach­t. Sollte in meinem Lebensbuch stehen, dass ich wiedergebo­ren werde, würde ich es noch einmal machen. Und sogar besser, mit meiner jetzigen Erfahrung. (lacht)

Standard: Warum ist Ihnen das Musizieren „heilige Pflicht“? Leonskaja: Die Musik ist ja eine heilige Sache. Weil auch das Leben heilig ist. Es wurde uns gegeben – wozu? Um in die Konditorei zu gehen? Eben. Jedes Stück auf der Bühne muss für sich stehen, uns nehmen. Dann geht das Publikum mit, auch wenn es fast keine Kraft mehr hat, im Saal sitzen zu bleiben.

Standard: Und Sie oben auf der Bühne, worum kämpfen Sie? Leonskaja: Ich kämpfe um die Stücke, die ich zu spielen habe.

Standard: Gibt’s da Stücke, die so etwas wie Ihre Angstgegne­r sind?

Standard: Auch Sie greifen daneben, oder gibt es Perfektion? Leonskaja: So ehrliche Künstler wie Alfred Brendel oder Grigory Sokolov wissen, warum sie maximal zwei Konzerte in der Saison spielen: Dann wird es wirklich perfekt.

Standard: Ist Perfektion überhaupt anzustrebe­n? Leonskaja: Ja, natürlich. Wenn wir mit Perfektion das künstleris­che Moment meinen.

Standard: Wenn etwas perfekt ist, ist es abgeschlos­sen. Danach kommt doch nichts mehr? Leonskaja: Oh doch, das ist wie mit dem Horizont. Die Horizontli­nie entfernt sich, wenn man näher kommt. Wir sind immer auf der Suche, wissen nicht, was komm, und werden bei der Arbeit von einem unsichtbar­en Geist geführt.

Standard: Ihr Lehrer, Freund und Vorbild, der 1997 verstorben­e rus- sische Pianist Swatoslaw Richter, hat Ihnen das Weinen abgewöhnt. Wie ist das passiert? Leonskaja: Das kam so: Richter war Pedant. Im Dezember, als sehr viele Briefe kamen, hörte er auf zu üben, weil er Ordnung schaffen musste. Da wurde dann in einem Heft notiert, welcher Brief eingelangt ist, in einem anderen Heft, ob und wann er beantworte­t wurde. In dem Jahr, als meine Mutter und Schostakow­itsch starben (1975; Anm.), saß ich am Weihnachts­tag bei ihm, als er an seine Ärztin schrieb: „Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen im nächsten Jahr nicht lästig sein werde, weil ich sterbe.“Das war mir zu viel, ich lief heulend in ein Zimmer und sperrte mich dort ein. Am nächsten Tag sagt er: „Wissen Sie, Lisotschka, das Weinen ist ja ein großes Vergnügen. Schon wenn ich daran denke zu weinen, bin ich herrlich zufrieden.“Das hat mir das Weinen für mein Leben abgewöhnt.

Standard: Nach Richter wurde ein Asteroid benannt, wissen Sie das? Leonskaja: Ja, und das finde ich rührend.

Standard: Asteroid Lisa Leonskaja: Wäre das nicht etwas für Sie? Leonskaja: Ich weiß nicht.

Standard: Wir Menschen sind sowieso aus Sternensta­ub, sagt die Wissenscha­ft ... Leonskaja: Das ist ein sehr schönes Gefühl.

Standard: ... und so gesehen sind wir alle Stars. Aber Sie wollen ja kein Star sein, oder? Leonskaja: Was ist ein Star? Ein Star ist ein Luftballon. Ein Stich – und dann ist es aus.

Standard: Passt zur letzten Frage: Worum geht’s im Leben? Leonskaja: Ums Lebensgefü­hl.

 ?? Foto: Regine Hendrich ?? Dort, wo ihr Klavier steht, dort, wo sie sich aufs Spielen konzentrie­ren kann, dort ist ihre Heimat. Das Weinen hat der Pianistin ihr Lehrer und Vorbild, Swatoslaw Richter, in Moskau abgewöhnt: Elisabeth Leonskaja.
Foto: Regine Hendrich Dort, wo ihr Klavier steht, dort, wo sie sich aufs Spielen konzentrie­ren kann, dort ist ihre Heimat. Das Weinen hat der Pianistin ihr Lehrer und Vorbild, Swatoslaw Richter, in Moskau abgewöhnt: Elisabeth Leonskaja.

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