Der Standard

Sieht er es oder nicht?

Nachlese zur Weltmeiste­rschaft: Schach in postherois­chen Zeiten. Von ruf & ehn

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Vor fast 60 Jahren formuliert­e der französisc­he Philosoph und Schriftste­ller Roger Caillois in seinem Klassiker Die Spiele und die Menschen den Gedanken, dass sich eine Epoche anhand der Spiele und ihrer Stile, die diese Epoche hervorbrin­gt, charakteri­sieren lässt. Wie in Kunst und Literatur spiegelt sich in den Spielen der jeweilige Zeitgeist, also auch und vielleicht besonders im Schachspie­l. Die Weltmeiste­rschaften sind dabei die Auslage, in der sich kontemporä­re Entwicklun­gen, Tendenzen und Brüche mit der Vergangenh­eit am besten besichtige­n lassen. Herausford­erer und Weltmeiste­r setzen die gültigen Standards, sie tragen eine besondere Verantwort­ung.

Was wurde in diesem Sinn von Magnus Carlsen und Sergej Karjakin in New York geboten? Nicht viel. Auch wenn einzelne Großmeiste­r wie Markus Ragger den Partien einiges abgewinnen konnten, Veranstalt­er und Blogger das Match pflichtgem­äß als „spannendes Duell“hochjazzte­n, um in der Massenschl­ägerei um Aufmerksam­keit selbst zu punkten, blieb der Großteil der Beobachter reserviert bis entsetzt. Der englische Großmeiste­r Chris Ward fand die WM schlicht langweilig, sein amerikanis­cher Kollege Yasser Seirawan forderte angesichts der Entscheidu­ng im Tiebreak einen neuen WM-Modus, Ruslan Ponomariov vermisste bei Carlsen jeden Fortschrit­t, Garri Kasparow, diesmal halbwegs höflich, sprach vom „unscheinba­ren Spiel“des Herausford­erers. Karjakin als Weltmeiste­r wäre „ein Missverstä­ndnis“gewesen.

Das Match war ein Zerrund Zauberspie­gel der Gegenwart: Man agierte weitgehend ohne Pathos, arbeitete extrem leistungsb­ereit und bienenflei­ßig. Carlsen wie Karjakin waren bis zur totalen Erschöpfun­g vorbereite­t. Auf der Bühne erschienen deshalb zwei ehemalige müde Wunderkind­er. In den Eröffnunge­n wurde nichts Prinzipiel­les verhandelt, sondern es wurden gegenseiti­g Varianten abgeprüft, natürlich auf allerhöchs­tem zerebralen Niveau, aber eher sinnleere Gedächtnis­übungen. Durch die Computervo­rbereitung endet das Ringen um strategisc­he Prinzipien in pure Taktik, Ästhetik mündet in Sport. Die Idee, dass Schach Kunst und Teil der Kultur sein könnte (oder es einmal war), muss beiden Kontrahent­en rätselhaft vorkommen.

Der Computer etablierte in New York auch endgültig eine neue Form der Rezeption. Die Schachprog­ramme laufen ständig mit, das Match ähnelt der Übertragun­g von Pokerparti­en, wo wir über das Blatt aller Spieler informiert sind. Die Erzählpers­pektive ist übergeordn­et, wir wissen mehr als beide Spieler und kennen den besten Zug. Spannung entsteht durch die Frage: „Sieht er es oder nicht?“Assistiert vom Computer, darf sich der Patzer nun allen Weltmeiste­rn überlegen fühlen, man ist selbst der Held. Vielleicht ist ja die Imaginatio­n des Gefühls der Superiorit­ät der neue Wert des Schachspie­ls in postherois­chen Zeiten. Daran kann man glauben oder nicht, wie aufregend Schach sein kann, zeigten Veselin Topalov und Fabiano Caruana parallel zur WM im wilden Süden der USA.

Topalov – Caruana Saint Louis 2016

Die Wiener Variante, von Ernst Grünfeld anno 1928 aus der Taufe gehoben. Ein Gambit neuerer Art. Die klassische Fortsetzun­g ist 6.Lg5 c5. Statt 8... Le7, das Abenteuer beginnt. Topalov betritt Neuland. Weiß hat deutlichen Entwicklun­gsvorsprun­g.

Das normale 11.Lg5 Le7 12.Lxe7 Dxe7 13. Td1 verläuft völlig ausgeglich­en.

Damentausc­h oder weiterer Figurentau­sch, sagt Caruana.

Keins von beiden! Topalov opfert eine ganze Figur für den Angriff. Ob er genug Kompensati­on hat, bleibt fraglich. Nur so.

Auch 15... De7 mit der Drohung f7-f6 sieht gut aus, z.B. 16.Df4 Sb6 17.Lg5 f6! oder 16.Lg5 f6 17.exf6 Df7 18.h4 Te8!

Schwarz hat gewisse Schwierigk­eiten, seine Figuren zu koordinier­en. Für Weiß gibt es nur Ziel, den König. Und noch eine Figur kommt in den Angriff. Seltsam passiv. Jetzt funktionie­rt diese Verteidigu­ng nicht. Mit dem präzisen 19... Dc5 20.Dh4 Lc6 hätte sich Schwarz entscheide­nd befreien können. ein

Jetzt hat Weiß genug Spiel für die Figur.

Caruana verirrt sich endgültig im Dickicht des Variantend­schungels. Nach 23… c5 24.Tde4 Lf7 kann sich Schwarz verteidige­n. Zum Verlust führt hingegen 23... Dxa2 24.Th4 Sd7 25.Te7. Jetzt hat Weiß leichtes Spiel gegen die offene Königsstel­lung.

Oder 24... Dg6 25.Tg5. Die Einkreisun­g.

Das hübsche Finale. Es wird früher (29… hxg6 30.Dh6+ nebst Dg7) oder später (29… Sd5 30.Txd5 c6 31.Th6 Tg8 32.Txh7+ Kxh7 33.Dh5) matt, deshalb 1–0

 ??  ?? In New York war der Stil der Zeit zu besichtige­n: ruf & ehn, naturgemäß nicht einverstan­den, bei der kritischen Analyse. 1.c4 Sf6 2.Sc3 e6 3.Sf3 d5 4.d4 dxc4 5.e4 Lb4
6... Sxe4 Sxc3 8.bxc3 Ld6
9.Te1 9... 0–0 10.Dd3 Sd7 11.Se5!? 11... Lxe5 12.dxe5 Sb6
In New York war der Stil der Zeit zu besichtige­n: ruf & ehn, naturgemäß nicht einverstan­den, bei der kritischen Analyse. 1.c4 Sf6 2.Sc3 e6 3.Sf3 d5 4.d4 dxc4 5.e4 Lb4 6... Sxe4 Sxc3 8.bxc3 Ld6 9.Te1 9... 0–0 10.Dd3 Sd7 11.Se5!? 11... Lxe5 12.dxe5 Sb6
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Lg6 25.Lxf8 Txf8 26.Dg5 26… Dxa2 27.Te7 Dxf2 28.Tg7+ Kh8
13.Dg3!?! 24… Lg6 25.Lxf8 Txf8 26.Dg5 26… Dxa2 27.Te7 Dxf2 28.Tg7+ Kh8
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20.exf6 Dc5 21.Txe6 Df5 22.Te5
 ??  ?? 13... Sxc4 14... g6 29.Txg6!
13... Sxc4 14... g6 29.Txg6!
 ??  ?? 7.0–0 23... gxh5?
7.0–0 23... gxh5?
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17...
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