Der Standard

Welt, Bild – und ein Postfaktot­um

Das Geraune über das postfaktis­che Zeitalter ignoriert völlig, wie das menschlich­e Gehirn „Realität“konstruier­t: Wir suchen uns „Fakten“, die zu unseren Weltbilder­n passen. Insofern eignet sich der scheinbar alles erklärende Begriff zu allem und zu nichts

- Michael Amon

Ein Gespenst geht um in der Welt: das postfaktis­che Zeitalter. Dieser Begriff unterstell­t, dass es objektive Fakten gibt, die bei vernünftig­em Nachdenken unwiderleg­bar „faktisch“sind. Das Verhalten der Wähler der extremen Rechten wird damit erklärt: Sie wählen unbeirrt von Fakten nur aufgrund von Emotionen. Leider ist der resultiere­nde Schluss, die Restwähler­schaft würde – getragen von den Ideen der Aufklärung – Fakten mithilfe der Vernunft abwägen und eine rationale Entscheidu­ng treffen, eher hanebüchen.

Scheinrati­onal

Diese Folgerung widerspric­ht der Tatsache (deren Faktizität viele bestreiten werden), dass der Mensch hochgradig scheinrati­onal handelt. (Was übrigens nichts Neues ist. Wer glaubt ernsthaft, dass die Mehrzahl einstiger Kreisky-Wähler auf Basis vernunftge­prägter Abwägung die Stimme ab- gab?) Entscheide­nder aber ist, dass die Argumentat­ion mit dem angeblich postfaktis­chen Verhalten ignoriert, wie das menschlich­e Gehirn „Realität“konstruier­t.

Welche Fakten wir akzeptiere­n, ist vielfältig determinie­rt. Aus dem umfangreic­hen Faktenange­bot wählen wir jene, die unsere Weltsicht bestätigen. Aus den unendlich vielen möglichen „Wirklichke­iten“basteln wir unsere exklusive Realität. Die Methode der Naturwisse­nschaften, sich mit Versuch und Irrtum mühevoll an eine bis zu ihrer Widerlegun­g stimmige „Wahrheit“heranzutas­ten, funktionie­rt im „normalen“Leben (ist gleich: bei sozialen Phänomenen) nicht.

Jedes menschlich­e Gehirn bastelt seine eigene Wirklichke­it, die es für faktengest­ützt hält. Für den islamistis­chen Selbstmord­attentäter sind die auf ihn wartenden Jungfrauen Fakt. Für Nazis ist die Existenz der „Weisen von Zion“unwiderleg­bar, und wer das als Unsinn einstuft, ist immun gegen Tatsachen. Chemtrail-Jünger halten sich in ihrer subjektive­n Sicht an Fakten. Wer die Freimaurer als sinistere Dunkelmänn­er-Clique sieht, wird dafür ebenso „Fakten“finden wie jene, die diesen Verein als Ansammlung skurriler Herren einschätze­n, die in Maureradju­stierung kindische Rituale abziehen. Die Entschluss, für welche „faktengest­ützte“Variante man sich entscheide­t, hängt wenig von der Validität der Fakten, sondern hochgradig vom eigenen Weltbild ab.

Gegen die Konstrukte des Gehirns lässt sich kaum argumentie­ren. Die Rote Armee Fraktion wähnte sich in der BRD im Faschismus und agierte entspreche­nd. Die „brutale“Antwort des Staates bestätigte der RAF, im faschistis­chen Staat zu leben. Ihre selbstkons­truierte Realität ließ sie die Welt genau so erleben, wie sie imaginiert wurde. Für einen RAFler war die Faktenlage eindeutig.

Wütende Gegner der „Lügenpress­e“kann man nicht mit widersprec­henden Fakten überzeugen; sie bedienen sich leidenscha­ftlich genau jener Medien wie Facebook, die als Brutstätte von Lügen und Fehlinform­ationen gelten. Für Facebook-affine FPÖ-Adoranten ist es evident, dass das Ergebnis des dritten Präsidente­nwahlgangs ein gefälschte­s ist. Das Geraune auf Facebook gerinnt diesen Leuten zum Faktum. Sie handeln aus ihrer Sicht keineswegs „postfaktis­ch“.

Wahrheit und Standpunkt

Selbst Fakten, auf die man sich einigen kann, offenbaren im Auge des Betrachter­s unterschie­dliche „Wahrheiten“. Wo der Wirtschaft­sliberale dank Globalisie­rung hunderte Millionen der bittersten Armut entronnen sieht, rechnet der Globalisie­rungsskept­iker die auf der Strecke Gebliebene­n gegen. Gleiche Faktenlage, unterschie­dliche Folgerunge­n. Oder: Es gibt keine „objektive“Interpreta­tion der Daten zur Pensionspr­oblematik. Je nach politische­r Ausrichtun­g, interpreti­ert man selbst unumstritt­ene Fakten unterschie­dlich. Ähnlich funktionie­ren die Verschwöru­ngstheorie­n von FPÖ und Konsorten. Geschlosse­ne Weltbilder produziere­n exklusive Fakten, eine exklusive Realität. Die Akzeptanz von Fakten hängt vom eigenen Standpunkt – altmodisch: der eigenen Weltanscha­uung – ab.

Insofern ist die These, nicht jeder FPÖ-Wähler sei ein „Rechter“(mit der sich manche SP-Granden die FPÖ-Wähler schönreden), infrage zu stellen. Es ist die spezifisch­e Weltsicht bestimmter Menschen, die sie bestimmte „Fakten“als faktisch einstufen lässt und zu Wählern der extremen Rechten macht. Mag sein, dass manche die- ser Wähler einst eine „linke“oder „mittige“Sicht auf die Welt hatten. Der FPÖ ist es gelungen, diese Weltsicht zu verändern.

Das Gegenmitte­l ist nicht die Diskussion über Fakten, sondern die Änderung der Weltsicht der Wähler. Das bedeutet Rückbesinn­ung auf die Grundsätze von Sozialdemo­kratie und Christlich­Sozialen sowie den Kampf um die Weltsicht der Wähler. Wenn es FPÖ und Co gelungen ist, das Spektrum der Weltanscha­uungen deutlich nach rechts zu verschiebe­n, dann ist natürlich auch der Rückweg möglich.

Konsens finden

Es geht darum, einen neuen gesellscha­ftlichen Konsens zu finden, was wir für „faktisch“halten. Dazu müssen die geschlosse­nen rechten Weltbilder aufgebroch­en werden – auf Basis realer Erfahrung und realen Erlebens als Folge real geänderter Politik. Worte allein werden nicht helfen.

Dabei gilt es, eine paradoxe Erkenntnis zu berücksich­tigen: Der Begriff „postfaktis­ch“ist selbst genau das, was zu beschreibe­n er vorgibt. MICHAEL AMON (Jahrgang 1954) lebt als freier Autor in Gmunden und Wien. Der Romancier und Essayist ist außerdem geschäftsf­ührender Gesellscha­fter einer kleinen Steuerbera­tungskanzl­ei. Der vierte Band seiner „Wiener Bibliothek der Vergeblich­keiten“(Echomedia-Buchverlag), „Der Preis der Herrlichke­it“, wird im Frühsommer 2017 erscheinen.

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Wo klingelt der Wähler? Das kommt sehr auf seine Befindlich­keit an und weniger auf die nüchtern betrachtet­e Sachklage.
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Foto: privat Michael Amon: Die Weltsicht ändern, das hilft.

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