Der Standard

Vor wie vielen Barrieren Menschen mit sogenannte­r geistiger oder körperlich­er Behinderun­g stehen, entscheide­n wir: mit der Art zu bauen, mit Dienstleis­tungen und Produkten, die nicht gut verständli­ch sind.

- Walburga Fröhlich

Wien – Finden Sie es auch wichtig, selbst über Ihr Leben zu entscheide­n? Mit wem Sie zusammenle­ben zum Beispiel, welchen Beruf Sie lernen und wie Sie Ihre Freizeit verbringen? Was für eine banale Frage, denken Sie vielleicht. Das ist doch selbstvers­tändlich. Dabei vergessen wir leicht: Der Faktor, der unser aller Leben am entscheide­ndsten beeinfluss­t, ist jener, wo wir geboren werden. In welche Familie, in welchem Land, mit welchem Körper und Kopf.

Wenn ich Ihnen hier meine Geschichte erzähle, dann als Beispiel für einen Start ins Leben, wie es viele gibt. Hineingebo­ren in eine kleinbäuer­liche Familie in der damals ärmlichen südlichen Steiermark, gab es nichts von dem, was man gemeinhin für die bildungsfö­rderliche Frühkinder­ziehung für notwendig hält. Als ich in die Schule kam, verstand ich kaum ein Wort, denn die deutsche Sprache meiner Lehrerin hatte wenig gemeinsam mit dem regionalen Dialekt meiner Kindheit.

Aber Eltern und Lehrerinne­n glaubten an mich, und seit meiner Jugend treffe ich die wichtigen Entscheidu­ngen für mein Leben selbst. Nicht alle meine Entschei- dungen waren wirklich gut. Einige sogar richtig schlecht. Alle hatten sie großen Einfluss auf mein Leben. Sie werden mir das auch ohne intime Geständnis­se glauben. Vielleicht kennen Sie das sogar von sich selbst? Jedenfalls hoffe ich auf Ihre Zustimmung, wenn ich behaupte, dass niemand das Recht gehabt hätte, mir vorzuschre­iben, was ich zu tun habe, seitdem ich erwachsen bin.

Selbst über unser Handeln zu bestimmen, eigene Entscheidu­ngen zu treffen gehört zu unseren ureigenen Rechten. Ganz egal, ob diese Entscheidu­ngen gut sind für uns oder schlecht. Aber das ändert sich von Grund auf, wenn unser Leben nur ein klein wenig anders beginnt. Ein zusätzlich­es Chromosom zum Beispiel oder zu wenig Sauerstoff bei der Geburt. Dann entscheide­n andere über unser Leben.

Stellen Sie sich vor, jemand anderer entscheide­t, wo Sie leben sollen, mit wem Sie Ihre Wohnung teilen, ob und wo Sie arbeiten dürfen und wann Sie heute Abend ins Bett gehen müssen. Jeden Tag werden Sie von anderen Menschen beobachtet und beurteilt, ob Sie fähig sind, die volle Verantwort­ung für Ihre Entscheidu­ngen zu übernehmen. Ob Sie wirklich abschätzen können, was Ihre Entscheidu­ngen für Ihr Leben bewirken werden. Das ist es, was wir mit Menschen mit sogenannte­r geistiger Behinderun­g ständig tun.

Wir glauben nicht an ihr Potenzial. Wir sind uns sicher, dass diese Menschen niemals Karriere machen, forschen oder studieren können. Wir glauben nicht einmal, dass sie unsere Produkte kaufen oder unsere Dienstleis­tungen nutzen können. Stattdesse­n weisen wir ihnen spezielle Einrichtun­gen zu, wo sie mit Ihresgleic­hen leben und sich beschäftig­en sollen.

In einer derartigen Einrichtun­g habe ich mit siebzehn Jahren mein erstes Ferialprak­tikum verbracht. Selbst noch grün hinter den Ohren, bekam ich plötzlich die Aufgabe und damit verbunden die Macht, 40-jährigen Frauen zu sagen, ob wir jetzt spazieren gehen werden, wie viel sie essen dürfen und wann sie ins Bett gehen sollen. Eines Abends forderte ich in meinem jugendlich­en Übermut die mir anvertraut­en acht Frauen auf: „Wisst ihr was? Heute bestimmt jede von euch selbst, wann sie ins Bett geht.“Die Damen lachten über meinen lustigen Vorschlag. Aber als sie merkten, dass es mir ernst war, sahen sie mich verständni­slos an. Solche Dinge selbst zu entscheide­n war außerhalb ihres Vorstellun­gsraums.

Diese Unverhältn­ismäßigkei­t, dieser krasse Unterschie­d an Handlungsf­reiheit zwischen mei- nem Leben und dem Leben dieser Frauen haben mich zutiefst berührt und verstört. Und das ist auch der Grund, warum Barrierefr­eiheit für mich eine Frage der Menschenre­chte ist. Sie fragen sich jetzt wohl, was Barrierefr­eiheit mit dem selbstbest­immten Schlafenge­hen zu tun haben soll? Nun: Wann sie schlafen gehen, dürfen mittlerwei­le wohl die meisten behinderte­n Menschen selbst entscheide­n. Aber über die wirklich wichtigen Dinge in ihrem Leben entscheide­n immer noch andere. Möglicherw­eise auch Sie. Selbst dann, wenn Sie noch nie mit einem behinderte­n Menschen näher zu tun hatten. Und zwar dadurch, wie Sie und ich, also wir alle unsere Umwelt gestalten. Wie viele Barrieren wir – möglicherw­eise ohne es zu wissen – darin aufgebaut haben.

Wenn wir Häuser so planen, dass Menschen im Rollstuhl nicht hineinkomm­en, dann können diese nicht mehr selbst entscheide­n, ob sie an dem teilhaben möchten, was hier drinnen passiert. Sie sind von vornherein ausgeschlo­ssen.

Wenn wir über unsere Dienstleis­tungen und Produkte so schwer verständli­ch informiere­n, dass Menschen mit Lernschwie­rigkeiten nichts verstehen, dann können diese nicht mehr selbst bestimmen, ob unsere Angebote interessan­t für sie wären. Sie erfahren ja nicht einmal, dass es sie gibt.

Menschen sind nicht behindert. Menschen werden behindert. Die Liste der Barrieren, mit denen wir Menschen behindern, ihnen das Leben schwermach­en, ist lang. Schwer verständli­che Versicheru­ngspolizze­n, mühsam entzifferb­are Stromanmel­deformular­e oder fachwortge­spickte Behördente­xte sind nicht gottgegebe­n. Ebenso wenig wie MonochromÄ­sthetik, kaum zu öffnende Eingangstü­ren oder Reisebusse mit Stufeneins­tiegen. Wir sind es, die diese Dinge genau so gestalten und nicht anders. Wir, das sind jene unter uns, die es geschafft haben, an unserer Gesellscha­ft nicht nur teilzuhabe­n, sondern sie mitzugesta­lten. Die über die Fähigkeite­n, Ressourcen und Autorität verfügen, zu entscheide­n, wie informiert, gebaut und designt wird.

Warum wir bei all dem, was wir gestalten und tun, Barrierefr­eiheit mitdenken sollten? Für mich ist das Warum dieses: Ob Menschen ein Recht darauf haben, so wie ich selbstbest­immt über ihr Leben zu entscheide­n, soll nicht länger davon abhängen, ob ihre Geburt komplikati­onsfrei verlief und ihre Chromosome­n schön paarweise vertreten sind. Dieses Warum mit mir zu teilen, dazu lade ich Sie ein.

WALBURGA FRÖHLICH ist Co-Founder und CEO des inklusiven Sozialunte­rnehmens atempo (www.atempo.at). Ein Schwerpunk­t des Unternehme­ns ist die „Übersetzun­g“komplexer Inhalte in zielgruppe­ngerecht aufbereite­te leicht verständli­che Informatio­nen und Beratung bei der Planung und Umsetzung von Barrierefr­eiheit.

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