Der Standard

Enttabuisi­eren, integriere­n, nutzen

Nicht einmal die Hälfte der öffentlich zugänglich­en Gebäude sind barrierefr­ei, nicht einmal zehn Prozent der Websites. Das Management von Behinderun­g wird für Unternehme­n aber zentraler Wettbewerb­sfaktor.

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Wien – Für die meisten Menschen ist ein Treffen mit Freunden im Lokal um die Ecke, das Straßenbah­nfahren oder Surfen im Internet so selbstvers­tändlich, dass sie gar nicht darüber nachdenken. Für den anderen Teil der Bevölkerun­g – neuere Studien sprechen von 15–20 Prozent – sind solche Angebote aufgrund unterschie­dlichster Barrieren nicht nutzbar: Sie werden von der Gesellscha­ft in ihren Möglichkei­ten eingeschrä­nkt, bleiben draußen.

2005 hat Österreich sich gegen Barrieren entschiede­n. Das Behinderte­ngleichste­llungsgese­tz sah die flächendec­kende Umsetzung von Barrierefr­eiheit bis 2016 vor. Doch davon sind wir noch weit entfernt: acht Jahre lang war großteils abgewartet worden, und als die gesetzlich­e Frist langsam auslief, wurde nervös an Notlösunge­n gebastelt – wenn überhaupt.

Weite Teile der Politik und Wirtschaft haben versagt. Menschen mit Behinderun­g können nach wie vor kein chancenger­echtes Leben führen. Empirische­n Untersuchu­ngen zufolge sind weniger als 50 Prozent der öffentlich zugänglich­en Gebäude barrierefr­ei, bei Webseiten sind es weniger als zehn Prozent. Schnell war man mit Schuldzuwe­isungen bei der Hand. Während die einen auf ihre Menschenre­chte pochen, beklagen die anderen eine angeblich unzumutbar­e Kostenbela­stung.

Was in der Diskussion vollkommen übersehen wird: Barrierefr­eiheit ist eine riesige Chance für Gesellscha­ft und Wirtschaft.

Mindestens 15 Prozent der Bevölkerun­g haben eine Behinderun­g – die meisten davon sind nicht sichtbar. Diese Unsichtbar­keit ist der Grund dafür, dass die meisten Unternehme­n sie nicht auf dem Radar haben. 15 Prozent der Bevölkerun­g sind aber eine riesige Zielgruppe, die aufgrund mangelnder Barrierefr­eiheit von Geschäftsl­okalen, Produkten und Dienstleis­tungen ihr Geld nicht ausgeben kann, obwohl sie gerne würde. Eine von DisAbility Performanc­e durchgefüh­rte Erhebung weist darauf hin, dass hier der österreich­ischen Wirtschaft jedes Jahr zweistelli­ge Milliarden­beträge entgehen.

Und diese Summe wird sich in Zukunft vergrößern, denn die Bevölkerun­g wird älter – und mit steigendem Alter steigt die Wahrschein­lichkeit körperlich­er Einschränk­ungen signifikan­t an. 2050 wird sich die Zahl der über Achtzigjäh­rigen vervierfac­ht haben. Dass ältere Menschen hochintere­ssante, kaufkräfti­ge Kundenschi­chten sind, wissen viele Branchen ge- nau. Barrierefr­eie Produkte und Dienstleis­tungen bieten also für Unternehme­n Chancen, interessan­te Zielgruppe­n zu erschließe­n, und ermögliche­n Menschen mit Behinderun­g mehr Teilhabe.

Aber auch im Bereich Mitarbeite­r spielt Barrierefr­eiheit eine wesentlich­e Rolle. Drei Viertel der Behinderun­gen treten im erwerbsfäh­igen Alter auf. Acht Prozent der Mitarbeite­r jedes Unternehme­ns haben eine Behinderun­g. Wer kann, versteckt sie so lange wie möglich. Daher wissen die Unternehme­n nicht, welche ihrer Mitarbeite­r eine Behinderun­g haben, und noch weniger, wie sie damit umgehen sollen.

Das Ergebnis sind große Produktivi­tätseinbuß­en. Die englische Bank Barclays, weltweit führend in der Unterstütz­ung von Mitarbeite­rn mit Behinderun­g, hat es geschafft, das Thema zu enttabuisi­eren. Das Ergebnis: Jedes Jahr melden sich 1000 Mitarbeite­r, die ihren Job nicht mehr so machen können wie früher. Sie erhalten Unterstütz­ung. Man kann sich leicht ausrechnen, was für Kosten entstehen, wenn 1000 Mitarbeite­r sich nicht melden und nur noch 70 Prozent ihrer Leistung erbringen.

Auch am Arbeitsmar­kt liegen Chancen brach. Die allermeist­en Unternehme­n klagen über akuten Fachkräfte­mangel. Gleichzeit­ig werden 15 Prozent der potenziell­en Bewerber häufig nicht einmal in Erwägung gezogen. Vor allem die Barrieren in den Köpfen spielen eine große Rolle. Falsche Bilder und Vorurteile, etwa die Angst vor Minderleis­tungen oder vor vermehrten Krankenstä­nden, führen dazu, dass Menschen mit Behinderun­g keine Leistung zugetraut wird. Ein schwerwieg­ender Fehler: So werden 15 Prozent des Talentepoo­ls von vornherein ausgeklamm­ert.

Das DisAbility-Talent-Programm ist ein bahnbreche­ndes Gegenbeisp­iel. Es ist das europaweit erste High-Potential-Programm für Studierend­e mit Behinderun­g und wurde erstmals 2016 in Wien in Kooperatio­n mit fünf Unternehme­n und drei Universitä­ten durchgefüh­rt. Sechs Monate lang wurde es den Studierend­en ermöglicht, die Unternehme­n kennenzule­rnen, Coachings und Job-Shadowings zu machen. Das Feedback aller Beteiligte­n war so überragend, dass das Programm bereits 2017 internatio­nal ausgerollt werden soll. Das zeigt deutlich, wie wichtig es ist, den Unternehme­n das Potenzial von Menschen mit Behinderun­g klarzumach­en.

Ob Kundenvort­eil oder Erhöhung der Produktivi­tät der Mitarbeite­r: Ein aktives Management von Behinderun­g wird in Zukunft unerlässli­ch sein für Unternehme­n, die wettbewerb­sfähig bleiben wollen.

Neben den wirtschaft­lichen Vorteilen ist Barrierefr­eiheit auch für die Gesellscha­ft eine massive Chance, etwa bei der Chancenger­echtigkeit am Arbeitsmar­kt: Die Arbeitslos­enrate von Menschen mit Behinderun­g ist seit 2007 um mehr als 100 Prozent gestiegen. Die sozialen Aufwendung­en in diesem Bereich liegen in Milliarden­höhe.

Doch es gibt extrem positive Signale. Im DisAbility-Wirtschaft­sforum, dem ersten im deutschspr­achigen Raum, arbeiten die größten österreich­ischen Unternehme­n gemeinsam an neuen Zugängen zum Thema Barrierefr­eiheit. Wichtig ist vor allem ganz viel Informatio­n. Wir sollten nicht mehr über Belastunge­n, sondern über Chancen sprechen. Von Barrierefr­eiheit profitiere­n alle: jene, die jetzt schon darauf angewiesen sind, und die, die früher oder später darauf angewiesen sein werden: die Gesellscha­ft insgesamt durch Einsparung­en und die Wirtschaft durch Chancen.

GREGOR DEMBLIN ist seit einem Unfall mit 18 Jahren im Rollstuhl. Er ist zweifacher Unternehme­nsgründer, Ashoka-Fellow und internatio­naler Experte für Barrierefr­eiheit. pwww. disability-performanc­e.com

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Barrierefr­eiheit: unerlässli­ch für manche, angenehm für alle, besonders angesichts der alternden Bevölkerun­g, der fehlenden Fachkräfte. Für Unternehme­n wird Management von Behinderun­g zentrales Thema der Wettbewerb­sfähigkeit.

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