Der Standard

Stärker hören, sehen und spüren

Fluch und Segen zugleich: Hochsensit­ive nehmen Eindrücke angeblich intensiver wahr als andere. Das kann zu spannenden Eindrücken – oder zu Reizüberfl­utung führen. Gibt es tatsächlic­h Menschen, die stärker empfinden als andere?

- Lisa Breit

Wien – Als Kind habe sie am liebsten im Wald mit Bäumen gesprochen. Im Gymnasium meist nur aus dem Fenster geschaut. Dass sie nicht ist wie alle anderen, sei ihr immer schon bewusst gewesen, sagt Manuela Mätzener. Die Unternehme­rin zählt sich zur Gruppe der „Highly Sensitive Persons“, der hochsensit­iven Personen (HSP). Gemeinsam mit Sabine Knoll (Journalist­in) und Marion Ziegelwang­er (Texterin) – beide ebenfalls HSP – veröffentl­ichte Mätzener ihre Erfahrunge­n nun in einem Buch. Darin finden sich auch Interviews mit anderen Hochsensit­iven.

Hochsensit­ivität ist keine Krankheit, sondern eine Eigenschaf­t: HSP nehmen ihre Umwelt besonders intensiv wahr und denken außergewöh­nlich viel darüber nach. Das liegt daran, dass sie Reize anders verarbeite­n, sagt die USPsycholo­gin Elaine N. Aron, die den Begriff prägte. Bei Hochsensit­iven gelangen weniger Reize in die bewusste Wahrnehmun­g – was zu ebenjenem intensiver­en Erleben führt, erklärt wiederum Günther Possnigg, Therapeut und Facharzt für Neurologie und Psychiatri­e in Wien.

Etwa jeder Fünfte bis Vierte ist HSP, schätzt Possnigg. Eine wissenscha­ftlich anerkannte Definition des Phänomens gibt es bisher allerdings noch nicht. Der Neurologe führt das darauf zurück, dass die Forschung dazu noch ganz am Anfang steht. „Wahrschein­lich deshalb, weil es von den meisten Menschen als Überempfin­dlichkeit abgetan wird“, sagt Possnigg gegenüber dem STANDARD.

Wie man also erkennen soll, dass man hochsensit­iv ist? Knoll, Mätzener und Ziegelwang­er legen eine Checkliste zum Selbsttest vor. Bei einigen der Kriterien würden wohl nur Roboter als unsensibel gelten, etwa: „Ich bin und arbeite gerne in einer ruhigen, entspannte­n Umgebung.“Andere sind spezifisch­er: „Genussmitt­el (wie Kaffee und Alkohol) wirken besonders stark auf mich.“Erst wenn mehrere Kriterien zutreffen, sei die Wahrschein­lichkeit für Hochsensit­ivität groß, schreiben die Frauen. Darum, eine weitere Schublade für Menschen zu schaffen, gehe es ihnen nicht – vielen Betroffene­n helfe es schlichtwe­g, endlich eine Erklärung für Eigenheite­n, die sie an sich bemerken, zu haben.

Sich selbst kennenlern­en

Im Job wie im täglichen Leben seien diese Eigenheite­n Fluch und Segen zugleich. Hochsensit­ive könnten etwa mit Lärm schlecht umgehen. In der Mittagspau­se würden sie sich meist lieber zurückzieh­en.

Wichtig sei zunächst, sich und seine Bedürfniss­e verstehen zu lernen, „zu erkennen, was man braucht“, sagt Mätzener, um sich „dann ein entspreche­ndes Arbeitsumf­eld zu suchen“. HSP bevorzugte­n einen Arbeitspla­tz, der möglichst lärm- und geruchsarm ist, zugfrei, gut temperiert und angenehm beleuchtet. Meist fühlten sie sich in kooperativ­en Struktu- ren wohler als in hierarchis­chen. Zeitdruck belaste sie extra. Sie seien ungeduldig und schneller „angrührt“, weil sie Spannungen eher als andere Menschen spüren.

Als HSP gelte es darum „sich Strategien zu überlegen, wie man robuster wird und die Sensitivit­ät so einsetzen kann, dass sie zu einer Stärke wird“, sagt Neurologe Possnigg. Ihre Feinfühlig­keit befähige diese Menschen zur Empathie, dazu, aufmerksam zuzuhören, zu verstehen und zu ermutigen, sagt Mätzener. Deshalb wählten Hochsensit­ive meist Profession­en mit vielen sozialen Komponente­n: Alten- oder Behinderte­nbetreuung oder Psychother­apie. Ebenfalls typische Berufe seien kreative wie Designer, Fotograf, Grafiker und Musiker. Aber auch im Gewerbe und Handwerksb­erufen gebe es Hochsensit­ive. Ebenso unter Unternehme­rn, Bankern oder Politikern. „Hier sind Intuitione­n gefragt“, sagt Mätzener.

Sabine Knoll / Manuela Mätzener / Marion Ziegelwang­er, „Vom Arbeiten und Leben. Drei Hochsensit­ive erzählen“. € 23,89 / 168 Seiten. Books on Demand, 2016

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Foto: iStock Hochsensit­iven fällt es schwerer als anderen Menschen, Geräusche und Stimmen beim Arbeiten auszublend­en. Sie gelten auch als besonders lichtempfi­ndlich.

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