Schuldspruch gegen Lagarde bringt IWF in Turbulenzen
Währungsfonds droht Führungsdebatte Chefin wegen „Nachlässigkeit“verurteilt
– Ein überraschender Schuldspruch gegen IWF-Chefin Christine Lagarde stellt eine Belastungsprobe für den Internationalen Währungsfonds dar. Im Falle eines Rücktritts von Lagarde wird mit einem erheblichen Gezerre um die Nachfolge gerechnet. Bisher wurde der IWFChef immer von Europa bestellt, doch daran gibt es insbesondere seit den hohen Griechenlandhilfen des Fonds massive Kritik von Entwicklungsund Schwellenländern.
Derzeit ist aber noch nicht klar, wie der Währungsfonds mit dem Ur- teil umgehen wird. Der IWF-Exekutivausschuss werde „kurzfristig“über das Ereignis „beraten“, hieß es aus Washington. Auch Athen muss zittern: Lagarde war für mildere Sparauflagen gegenüber Griechenland eingetreten als die Euroländer.
Zum Verhängnis wurde der Französin eine „Nachlässigkeit“, die ihr vor fast zehn Jahren unterlief: Sie legte als Ministerin keinen Einspruch gegen eine Entschädigung des Geschäftsmanns Bernard Tapie ein. Eine Strafe fasste sie nicht aus. (red)
Es ist die Geschichte eines Sandkorns, das sich zum Stolperstein auswächst. Als Christine Lagarde vor bald zehn Jahren die verschachtelte Affäre um den Verkauf des Sportartikelherstellers Adidas durchwinkte, hätte sie sich nicht gedacht, dass sie damit auch ihr berufliches Schicksal gefährden könnte. Damals schien das Ganze eine bloße Formalität.
Als damalige Wirtschaftsministerin Frankreichs billigte Lagarde 2007 ein Schiedsgericht, das den Fußballmanager Bernard Tapie für dessen verlustreichen Verkauf des Sportartikelherstellers Adidas an die Staatsbank Crédit Lyonnais entschädigen sollte. Am Montag ist der Gerichtshof der Republik zum Schluss gekommen, Christine Lagarde habe eine „Nachlässigkeit“begangen, indem sie das Arrangement nicht angefochten habe. Die Gerichtspräsidentin erklärte, es habe sich nicht um einen „unglücklichen politischen Entscheid“gehandelt, wie Lagarde, nunmehr Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), behauptet habe; vielmehr habe sie durchaus die Wahl gehabt, eine andere Prozedur zu wählen.
Zugleich machte das Gericht klar, dass es „den internationalen Ruf“Lagardes in Rechnung stellen wolle. Mit diesem erstaunlichen Argument verzichtet das Spezialgericht für französische Spitzenpolitiker auf eine Strafe. Der Schuldspruch gegen Lagarde führt denn auch nicht zu einem Eintrag im Vorstrafenregister, wie im Urteil ausgeführt wird. Möglich gewesen wäre ein Strafmaß von bis zu einem Jahr Haft.
Lagarde nahm an der Urteilsverkündung nicht teil; sie war schon am Wochenende an den IWF-Sitz in Washington zurückgeflogen. Ihr Anwalt machte dafür „berufli- che Obliegenheiten“verantwortlich; ob er das Urteil an den französischen Kassationshof weiterziehen will, ließ er offen.
Die große Frage, ob Lagarde mit dieser Halbverurteilung den Währungsfonds weiter leiten kann, bleibt vorerst offen. IWF-Sprecher Gerry Rice erklärte nach der Urteilsverkündung, der Exekutivausschuss werde „kurzfristig“zusammentreten, um die jüngsten Entwicklungen des Pariser Gerichtsfalles zu „beraten“. Bei früheren Gerichtsetappen hatte er Lagarde stets das Vertrauen ausgedrückt.
Schlechter Zeitpunkt
Auf jeden Fall kommt das Urteil für den IWF zu einem schlechten Zeitpunkt. Die Finanzorganisation hatte Lagarde erst im Februar dieses Jahres für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. Ihr Rücktritt würde die Finanzinstitution in Turbulenzen stürzen. Schwellenländer nähmen ihn zum Anlass, Druck auf die Industriestaaten zu erhöhen. Diese teilen sich den Vorsitz der beiden Bretton WoodsOrganismen – die Amerikaner lei- ten die Weltbank, die Europäer den Währungsfonds. Lagarde galt trotz der Kritik namentlich aus dem Schuldnerland Griechenland als Konsensfigur: Sie sorgte stets für den Ausgleich zwischen unnachgiebigeren und „sozialeren“ Kreditgeberländern. Ihre Demission würde dieses labile Gleichgewicht aushebeln und den IWF in eine Führungskrise stürzen.
Das Verdikt gegen Lagarde stellt eine kleinere Überraschung dar: Der Staatsanwalt hatte am vergan- genen Freitag einen Freispruch Lagardes gefordert. Die IWF-Chefin hatte sich während der Verhandlung allerdings schlecht verteidigt. Sie erklärte, sie habe als Wirtschaftsministerin täglich eine Reihe von Entscheiden absegnen müssen, die ihre Mitarbeiter vorbereitet hatten. Der damalige Vorsteher des Schatzamtes, Bruno Bézard, erklärte aber vorige Woche im Prozess, er habe das Schiedsgericht als „äußerst gefährlich“bezeichnet.
„Alle irgendwie nachlässig“
Lagarde setzte sich darüber hinweg und bot ihre Hand zur „Entschädigung“Tapies. Auf die Frage der Gerichtspräsidentin, ob ihr denn die Höhe des Geldbetrags nicht „kolossal“erschienen sei, antwortete die nun Verurteilte: „Was hätte das juristisch schon geändert?“Im Verlauf der Verhandlung musste sie einräumen: „Wir sind ja irgendwie alle ein wenig nachlässig.“Dieser Satz wird ihr heute in Frankreich angekreidet: „Schon, aber irgendwie bringt die Nachlässigkeit von uns allen die Steuerzahler nicht um 400 Millionen“, frotzelte das Satireblatt Le Canard enchaîné.
Auch wenn Lagarde verurteilt ist, bleibt das eigentliche Tatmotiv für die Veruntreuung der Staatsgelder bis heute im Dunkeln. Lagarde sprach ausweichend von der Möglichkeit einer „schweigenden“Übereinkunft.