Der Standard

Moskau trauert der Sowjetunio­n nach

Bis Sommer 1991 war die Auflösung der Sowjetunio­n kaum ein realistisc­hes Szenario, glaubt die Historiker­in Susanne Schattenbe­rg. Zur Aufbruchss­timmung mischte sich aber Frust über die triste Versorgung­slage. Im Kaukasus und in Zentralasi­en brachen die eth

- Gerald Schubert Foto: Harald Rehling

STANDARD: Gleich mehrere Tage gelten als Datum für das Ende der Sowjetunio­n. Was ist nun wirklich der ausschlagg­ebende Stichtag? Schattenbe­rg: Für mich ist es der 25. Dezember 1991, als Michail Gorbatscho­w seinen Rücktritt als Präsident erklärte. Die beiden Daten davor beziehen sich auf die Gründung der GUS (Gemeinscha­ft Unabhängig­er Staaten, Anm.). Schon das erste Gründungsd­atum am 8. Dezember – mit Russland, der Ukraine und Weißrussla­nd – kann man als Anfang vom Ende der Sowjetunio­n bezeichnen. Am 21. Dezember gab es in Alma-Ata dann die sogenannte zweite Gründung. Gorbatscho­w hat letztlich die Konsequenz­en gezogen.

STANDARD: Die osteuropäi­schen Staaten gingen bereits 1989 neue Wege, die Sowjetunio­n existierte bis 1991 weiter. Wie lassen sich diese zwei Jahre charakteri­sieren? Schattenbe­rg: Wie neuere Forschunge­n zeigen, konnte sich bis zum Sommer 1991 kaum jemand vorstellen, dass sich die Sowjetunio­n auflösen würde. Das gilt für den Großteil der Teilrepubl­iken, vielleicht mit Ausnahme des Baltikums. Es gab sowohl bei der Partei als auch in der Bevölkerun­g großes Interesse daran, in diesem Verbund weiterzule­ben. Die meisten Menschen wurden ja bereits in der Sowjetunio­n geboren und sind dort aufgewachs­en. Die Sowjetunio­n hatte sich als Wahrheit durchgeset­zt.

STANDARD: Wie sah in dieser Umbruchsze­it der Alltag aus? Schattenbe­rg: Einerseits gab es eine unglaublic­he Aufbruchss­timmung. Man konnte endlich sagen, dass die Teilrepubl­iken nicht alle freiwillig unter das Dach der Sowjetunio­n geschlüpft waren, sondern dass das auch unter Gewalt und Zwang geschah. Man konnte offener über den Terror des Stalinismu­s reden, als das noch unter Chruschtsc­how möglich war. Und man konnte politische Parteien gründen. Für viele standen dennoch die zusammenbr­echende Versorgung­slage und die Schlangen vor den Geschäften im Vordergrun­d. Die Frustratio­n war groß. Im Herbst 1990 habe ich in Moskau im Studentenh­eim gewohnt. Manche sagten zu mir: „Nehmt ihr doch unseren Gorbatscho­w, wenn ihr den so toll findet. Wir wollen euren Helmut Kohl.“

STANDARD: Wodurch unterschie­den sich in dieser Phase die anderen Republiken von Russland? Schattenbe­rg: Was sich in den russischen Zentren nicht so widerspieg­elte: Im Kaukasus und in Zentralasi­en, etwa in Kasachstan, brachen die ethnischen Konflikte offen aus. Viele dort glaubten, im Rahmen der neuen Offenheit und des Umbaus ihre eigenen Interessen durchsetze­n zu können.

STANDARD: Wie blickt man in diesen Ländern heute auf die Vergangenh­eit in der Sowjetunio­n? Schattenbe­rg: Teilweise wird ihr Zusammenbr­uch dort eher als Verlust empfunden. Man hat etwa nicht mehr wie früher die Möglichkei­t, einfach nach Russland zu reisen oder in Moskau zu studieren. Mein Eindruck ist, dass heute in Kasachstan sehr um die Frage gerungen wird, ob man sich eher als Opfer oder als Profiteur sieht. Ich glaube, es hält sich in etwa die Waage: Einerseits wird offen darüber geredet, was den Kasachen unter Stalin angetan wurde. Anderersei­ts gab es unter Chruschtsc­how oder Breschnew Infrastruk­turprojekt­e, von denen sie heute noch profitiere­n.

STANDARD: Und wie sehen Sie die Situation in Russland? Präsident Wladimir Putin hat den Zerfall der Sowjetunio­n ja als geopolitis­che Katastroph­e bezeichnet. Schattenbe­rg: Viele Menschen scheinen Putin darin zu folgen. Die Zustimmung zu seiner Politik scheint stark daran gekoppelt zu sein, wie er sich außenpolit­isch verhält. Hier spielt offenbar eine Art Phantomsch­merz eine Rolle: Wir waren mal eine Großmacht, jetzt sollen wir nur noch eine Re

gionalmach­t sein.

STANDARD: Hat die GUS irgendwann Eingang in das politische Bewusstsei­n der Menschen gefunden? Schattenbe­rg: Ich glaube, die GUS blieb eine weitgehend administra­tive Angelegenh­eit, die die Menschen nie wirklich bewegt hat. Es gibt auch kein neues übernation­ales Selbstvers­tändnis als „Gussen“. Dieser Begriff wurde in den 1990erJahr­en im Westen manchmal verwendet. In den ehemaligen Sowjetrepu­bliken habe ich ihn nie gehört.

SUSANNE SCHATTENBE­RG( 47) ist Professori­n für Zeitgeschi­chte und Kultur Osteuropas sowie Direktorin der Forschungs­stelle Osteuropa an der Universitä­t Bremen.

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