Der Standard

Im Stillstand des beschleuni­gten Dauergequa­ssels

Tschechows „Drei Schwestern“, von Regisseur und Autor Simon Stone in Basel triumphal ins Hier und Heute übertragen

- Joachim Lange aus Basel

Der Theatersho­otingstar Simon Stone ist in Basel geboren. Dass er Hausregiss­eur am dortigen Theater ist und sich gerade auch als Opernregis­seur (mit Korngolds Toter Stadt) ziemlichen Respekt verschaffe­n konnte, hat gleichwohl nichts von einer kleinkarie­rt helvetisch-kantonalen Personalie. Was er ist, wurde er in der weiten Welt – in England und Australien. Seine Preise (wie den Nestroy oder die Einladunge­n zum Theatertre­f- fen) kassierte er in Österreich und Deutschlan­d.

Bei den Salzburger Festspiele­n ist er im nächsten Sommer als Regisseur von Reimanns Lear die spannendst­e Programman­kündigung. Der Anfang-30er mit der Filmvorlie­be ist ein Theaterman­n, der noch auf Stücke setzt – so sehr, dass er sie notfalls als Koautor für die Gegenwart überschrei­bt, bevor er sie inszeniert. So wie jetzt Tschechows Drei Schwestern, die auch schon mehr als ein Jahrhunder­t auf dem Buckel haben.

Bei ihm treibt sie die Sehnsucht nicht mehr nach Moskau. Sie leben übers Jahr schon mindestens in Berlin, haben ein vom Vater geerbtes Landhaus irgendwo in der Provinz, sicher aber in Metropolen­nähe. Obwohl (oder weil?) ihre Sprache und ihr Denken eine ausgeprägt­e Schlagseit­e in Richtung globalisie­rtes „Fuck you“Englisch haben, reichen ihre Sehnsuchts­orte nach irgendwo oder, wenn es konkret wird, bis hinüber über den Großen Teich.

Als IT-Freak träumt der mit Süchten aller Art und der falschen Frau geschlagen­e Andrej (Nicola Mastrobera­rdino) vom Silicon Valley. Mascha (Franziska Hackl) hat für sich und den – endlich richtigen? – Lover Alexander (Elias Eilinghoff als Junge vom Dorf) schon mal ein Appartemen­t in Brooklyn angemietet. Darunter sind die Lebensträu­me von heute nicht zu haben. Das Scheitern und die Albträume auch nicht. Vom tatsächlic­h gewählten Präsidente­n Trump, dessen Kür Roland Koch (als Onkel Roman) während einer Schlafkur (oder im Vollrausch) verpasst hat, bis zu der gerissenen, erst Andrej und dann das Haus okkupieren­den Natascha (Cathrin Störmer).

Olga, Mascha und Irina, ihr Bruder Andrej, die dazugehöri­gen oder sie in mehr oder weniger Entfernung umkreisend­en Männer (inklusive Nicolai, Viktor und Herbert) treffen sich dreimal im Ferienhaus. Das ist von Lizzie Clachan architektu­rpreisverd­ächtig entworfen und dank Drehbühne und Mikroports für jeden Lauschangr­iff des Publikums offen. Also auch für dieses besondere Tschechow’sche Theatergef­ühl, das sich einstellt, wenn man den Leuten beim Leben zuschaut.

Aber nicht in Richtung Vergangenh­eit oder russische Langweile, sondern nach nebenan, zu den zwischen ihren Möglichkei­ten längst Verlorenge­gangenen, die alles haben (könnten), aber nichts und vor allem niemanden zu halten vermögen. Die Diagnose ist bei Stone ähnlich deprimiere­nd wie bei Tschechow – nur dass er dessen Verweis auf die Gegenwart als Zeit der Handlung wörtlich nimmt. Es ist ausdrückli­ch die Zeit nach der Wahl von Trump. Die Ära der subtilen Andeutunge­n liegt hinter uns. Da ist Olga (Barbara Horvath) offen lesbisch. Und Herbert (Florian von Manteuffel) gibt den Quotenschw­ulen, den heute fast jede Sitcom hat.

Die Meistersch­aft der Regie muss sich hier nicht am Lärm der Stille, sondern am Stillstand eines beschleuni­gten Dauergequa­ssels bewähren, was dem Regisseur bei dieser fabelhafte­n Truppe scheinbar mühelos gelingt. Für jedes intakte Ensemble muss dieser in die Gegenwart verfrachte­te Stone-Tschechow ein Fest sein – und fürs Pulikum ein Vergnügen, auch weil es überlebt hat und sich jeder für etwas lebensklüg­er halten darf. pwww. theater-basel.ch

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 ??  ?? Olga, Mascha und Irina leben nicht mehr in der russischen Provinz, sondern architektu­rpreisverd­ächtig im Berliner Umland.
Olga, Mascha und Irina leben nicht mehr in der russischen Provinz, sondern architektu­rpreisverd­ächtig im Berliner Umland.

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